Auslegung-12: Die poetischen Bücher

Auslegung der Bibel

 

Einstieg: Die poetischen Bücher sind vielen Leuten gut bekannt. Vier der fünf poetischen Bücher sind auch als Weisheitsliteratur bekannt. Die poetischen Dialoge Hiobs, die Sprüche für den Alltag, die Selbstgespräche des Predigers und die Liebessprache des Hohenliedes, beinhalten viele Weisheiten.

Einleitung

Im deutschen Alten Testament gehören fünf Bücher zur Poesie. Nachfolgend ein kurzer Überblick über diese Bücher.

• Hiob ist ein Buch über das Leiden eines gerechten Mannes.

• Die Psalmen sind eine Sammlung von Liedern, die für das Lob Gottes gedacht sind. Der Hauptautor dieser Lieder war David, der „Liebling der Lieder Israels“.

• Die Sprüche sind eine Sammlung von Weisheiten, die die Menschen lehren, erfolgreich zu leben. Viele dieser Sprüche sind von Salomo geschrieben.

• Der Prediger beschäftigt sich mit der Bedeutung des Lebens. Dieses Buch wird Salomo zugeschrieben.

• Das Hohelied von Salomo ist ein Buch mit Liebesliedern und zelebriert die romantische Liebe. Es wurde offensichtlich auch von Salomo geschrieben.

Diese fünf Bücher mit „Poesie“ zu bezeichnen, führt zu gewissen Widersprüchen. Auch die Masoreten weisen Hiob, die Psalmen und die Sprüche der Poesie zu. Dies wird darin ersichtlich, dass sie diese Bücher mit anderen Vokalzeichen versehen haben. Damit deuten sie an, dass es sich hier um eine andere Gattung der Literatur handelt. Das Buch „der Prediger“ (oder Kohelet) ist mehrheitlich nicht poetisch geschrieben worden. Hinzu kommt das Hohelied der Liebe, das viele als hohe Poesie betrachten, aber von den Masoreten nicht in die gleiche Gruppe wie Hiob, die Psalmen und die Sprüche eingeteilt wurde. Zusätzlich findet man Poesie im ganzen übrigen Alten Testament – im Pentateuch, in den historischen Büchern und besonders auch in den Propheten.

Die Auslegung der poetischen Bücher (so wie die poetische Sprache im ganzen Alten Testament) stellt an den Bibelleser besondere Ansprüche. Wie können diese Bücher verstanden werden? Zuerst wollen wir anhand der Psalmen einige Merkmale der hebräischen Poesie betrachten. Anschliessend beginnen wir mit der Auslegung und verwenden nochmals die Psalmen. Schliesslich beschäftigen wir uns mit den Büchern, die als „Weisheitsliteratur“ bekannt sind.

Hintergrund zur alttestamentlichen Poesie

Allgemeine Merkmale der Poesie
Poesie gibt es in den meisten Büchern des Alten Testaments. Warum? Warum schrieben die Israeliten so viel der heiligen Literatur in Poesie? Warum inspirierte sie Gott in dieser Form? Eine mögliche Antwort ist die Tatsache, dass die Menschen in der antiken Zeit in einer mündlichen Kultur lebten. Sie lasen normalerweise die Schriften nicht persönlich, sondern sie wurden ihnen vorgelesen. Unter solchen Umständen hat die Poesie einen Vorteil, denn man kann sie sich leichter merken.

Was sind die allgemeinen Merkmale der Poesie? Wenn wir an Poesie denken, fallen uns Verse ein, die sich reimen („Hänschen klein – ging allein – in die weite Welt hinein …“). Es sind aber nicht Reime, die Poesie definieren. Auch im Deutschen gibt es Gedichte, die nicht in Reimformen geschrieben sind. Poesie hat andere Merkmale, die ihr Wesen ausmachen. Unter ihnen finden wir folgende:

• Poesie ist meistens ergreifend. Sie spricht die Gefühle an. Poesie wird nicht verwendet, um Anleitungen niederzuschreiben oder Richtlinien zu erstellen. Sie schildert, wie der Dichter fühlt.

• Poesie hat eine Rhythmik oder eine Metrik. Poesie, sogar freie Verse, hat einen Takt, der durch ihren Rhythmus schwierig sein kann.

• Poesie braucht in der Regel bildhafte Sprache. Auch wenn bildhafte Sprache in Prosa verwendet wird, ist sie meistens ein Kennzeichen der Poesie.

• Poesie zeigt in konzentrierter Form, wie der Dichter fühlt. Ihre Bedeutung wird oft nur angedeutet und nicht direkt angesprochen, d. h. impliziert statt expliziert.

• Poesie hat gewöhnlich eine andere Form. Ihre Gedanken werden häufig in einzelnen Strophen verfasst und nicht in Absätzen. Einzelne Sätze werden eingerückt dargestellt, um die Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen des Gedichts zu verdeutlichen.

Merkmale der hebräischen Poesie
Die Poesie des Alten Testaments weist die gleichen Merkmale auf wie die Poesie anderer Sprachen, mit der Ausnahme, dass sich die hebräische Poesie nicht reimt. Dafür kennt die hebräische Poesie andere Spezialitäten. Das Alte Testament enthält einige Akrostichen (d. h. Betonung der Anfangsbuchstaben): Die erste Zeile des Gedichtes beginnt mit dem ersten Buchstaben des Alphabetes, die zweite Zeile mit dem zweiten und so weiter bis zum letzten (zweiundzwanzigsten) Buchstaben des hebräischen Alphabetes.

Ein Hauptmerkmal der hebräischen Poesie ist der Parallelismus. Die Grundform des Parallelismus ist ein Zweizeiler. Bei dieser Form steht die zweite Zeile in einer besonderen Beziehung zur ersten. Die häufigsten Arten von Parallelismus sind:

1. Synonymer Parallelismus: Die zweite Zeile drückt den gleichen oder ähnlichen Gedanken zur ersten Zeile aus.

Psalm 24,1
„Des Herrn ist die Erde und ihre Fülle,
die Welt und die darauf wohnen.“

2. Antithetischer Parallelismus: Die zweite Zeile stellt einen Gegensatz zur ersten dar.

Psalm 1,6
„Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten;
aber der Gottlosen Weg vergeht.“

3. Synthetischer Parallelismus: Die zweite Zeile vervollständigt oder ergänzt die erste Zeile.

Psalm 14,1a+b
„Der Tor spricht in seinem Herzen: „Es ist kein Gott!“
Sie haben Verderben angerichtet, sie tun abscheuliche Taten.“

4. Klimatischer oder stufenartiger Parallelismus: Die zweite Zeile, sowie die folgenden, wiederholen einige Worte der ersten Zeile. Diese nachfolgenden Zeilen ergänzen oder vervollständigen die Information aus der ersten Zeile.

Psalm 29,1
„Gebt dem Herrn, ihr Göttersöhne,
gebt dem Herrn Herrlichkeit und Kraft!“

5. Emblematischer Parallelismus: Die erste Zeile beginnt mit einem „wie“ und die zweite Zeile vervollständigt den Vergleich der ersten.

Psalm 42,1
„Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser,
so schreit meine Seele, Gott, zu dir.“

6. Chiastischer Parallelismus: Der erste Teil der ersten Zeile entspricht dem zweiten Teil der zweiten Zeile, in einem ABBA Muster.

Psalm 51,1 (Zürcher Übersetzung)
„Sei mir gnädig, Gott, [A]
nach deiner Güte, [B]
nach dem Mass deines Erbarmens [B]
tilge meine Freveltaten.“ [A]

Der Parallelismus gibt der hebräischen Poesie den Rhythmus, ein Rhythmus, der sich mehr an den Gedankenfluss lehnt, als an ein reguläres metrisches System. Für die Auslegung ist es hilfreich, den Parallelismus zu verstehen. Wenn zum Beispiel zwei Zeilen einen synonymen Parallelismus darstellen, kann die erste Zeile helfen, die zweite besser zu verstehen.

Psalm 8,5 sagt: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Sohn, dass du dich um ihn kümmerst?“ Was ist mit „Menschen Sohn“ im zweiten Teil gemeint? Da die beiden Zeilen einen synonymen Parallelismus aufweisen, ist der „Menschen Sohn“ in der zweiten Zeile derselbe, wie der „Mensch” in der ersten. In diesem Vers ist der „Menschen Sohn“ eine andere Bezeichnung für Mensch.

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Alttestamentliche Poesie auslegen

Wie soll alttestamentliche Poesie ausgelegt werden? Wie sollen besonders die Psalmen ausgelegt werden? Folgende Richtlinien können dabei helfen:

1. Behalte die Beschaffenheit der Psalmen im Auge. (a) Die Psalmen sind ein Gesangsbuch, um Gott zu preisen. (b) Die Psalmen sind eine Sammlung von Gedichten aus der gesamten Geschichte Israels. Die Reihenfolge der Psalmen, innerhalb dieser Sammlung, ist nicht wesentlich. (c) Die meisten Psalmen sind für den Gebrauch im Gottesdienst gedacht. (d) Die Psalmen, wie auch andere Gedichte, wurden geschrieben, um die Gefühle des Dichters auszudrücken. Bei der Auslegung eines ganzen Psalms oder nur eines Abschnitts, müssen diese Tatsachen berücksichtigt werden.

2. Beachte das historische Umfeld eines Psalms. Die Überschrift am Anfang eines Psalms, weist meist auf das historische Umfeld hin. Diese Überschriften gehören nicht zum inspirierten Text, aber sie sind historisch und können uns nützliche Informationen über den Ursprung des Psalms geben. Das historische Umfeld zu kennen, in der ein Psalm geschrieben wurde, kann uns helfen, den Psalm besser zu verstehen und wertzuschätzen.

3. Versuche den Hintergrund zu verstehen, in welchem der Psalm verwendet wurde. Gemäss der Überlieferung wurden einige Psalmen während der Pilgerreisen der Israeliten nach Jerusalem benutzt. Wenn wir erfahren, wie ein Psalm ursprünglich im Gottesdienst verwendet wurde und uns vorstellen, wie ihn die Israeliten auf der Reise, im Tempel, zu Hause oder in der Synagoge gesungen haben, können wir besser verstehen, wie der Psalm von den ersten Lesern verstanden wurde.

4. Bestimme die Art des Psalms. Gelehrte haben verschiedene Listen zusammengestellt. John T. Willis hat folgende Liste von Psalmgattungen zusammengestellt: „Hymnen“, „Psalmen, die Gott als König ausrufen“, „Nationale Psalmen der Danksagung“, „persönliche Psalmen der Danksagung“, „Volksklagen“, „persönliche Klagen“, „Busspsalmen“, „Psalmen von Königen“.

Solche Listen haben nur einen beschränkten Nutzen für den Ausleger. Unabhängig von seiner Gattung, muss jeder Psalm einzeln betrachtet werden. Trotzdem ist die Klassifizierung der Psalmen eine Überlegung wert.

5. Untersuche die Gliederung des Psalms. Jeder Psalm hat eine Gliederung. Fast jeder Psalm ist in Strophen eingeteilt, die sich in bestimmter Weise auf das Hauptthema beziehen. Ermittle das Thema des Psalms und bestimme dann, wie dieses Thema durch die verschiedenen Strophen des Gedichts getragen wird. In seinem Kommentar zu Psalm 1 bis 50, bezeichnete Eddie Cloer das Thema von Psalm 8: „Der majestätische Name Gottes.“ Dieses Thema führte zur folgenden Gliederung:

8,1:  Gott ist der Höchste

8,2:  Gott und die Schöpfung

8,3-5:  Gott und seine Fürsorge für die Menschen

8,6-8:  Gott und die Herrschaft des Menschen

8,9:  Gott ist der Höchste (nochmals).

6. Bedenke, dass die Psalmen zur Poesie zählen. C. S. Lewis schrieb: „… Die Psalmen sind Gedichte, und Gedichte sollten gesungen werden. Es sind keine lehrmässigen Abhandlungen, keine Predigten … Sie müssen als Gedichte gelesen werden, wenn sie verstanden werden sollen … Andernfalls missverstehen wir ihren Inhalt und meinen in ihnen etwas zu erkennen, was sie nicht beinhalten.“

Die Psalmen sind nicht Gesetz. Sie bilden weder einen Gesetzeskörper noch eine systematische Theologie. Während wir in den Psalmen Theologien – Wahrheiten über Gott – finden, gilt es zu verstehen, dass diese Lieder nicht geschrieben wurden, um eine systematische Lehre über Gott abzugeben.

7. Erwarte in den Psalmen eine poetische Sprache. Die Dichter bedienen sich der künstlerischen Freiheit und verwenden eine bildhafte Sprache. Gorden D. Fee und Douglas Stuart führen gute Beispiele an, die uns die bildhafte Sprache der Psalmen bewusst werden lassen.

Wer singt zum Beispiel das Lied von Martin Luther „Ein feste Burg ist unser Gott“ (basierend auf Psalm 46,2) mit der Annahme, dass Gott tatsächlich eine Burg, eine Festung oder eine dicke Mauer ist? Wir verstehen, dass „eine feste Burg“ eine bildhafte Sprache ist, über Gott nachzudenken. In gleicher Weise, wenn der Psalmist in Psalm 51,7 sagt: „Siehe, in Schuld bin ich geboren, und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen“, will er nicht eine Lehre über die Erbsünde aufstellen und sagen, die Empfängnis oder jede Empfängnis sei sündhaft, oder eine Mutter wäre eine Sünderin, weil sie schwanger wurde, oder die Sünde werde auf ungeborene Kinder übertragen usw. Der Psalmist benutzt eine Hyperbel – bewusste Übertreibung – um stark und wirkungsvoll zu betonen, dass David ein Sünder ist mit einer langen Vergangenheit. Wenn du einen Psalm liest, sei vorsichtig, dass du daraus nicht Vorstellungen oder Lehren ziehst, an die der inspirierte Liederschreiber nie dachte.

8. Sei vorsichtig mit „Fluchpsalmen“. Fluch- oder Vergeltungspsalmen sind Psalmen, in denen der Psalmist Gott bittet, andere zu verfluchen oder zu zerstören, wie zum Beispiel Psalm 83. Dieser Psalm wendet sich an die Feinde Israels und sagt unter anderem (Ps 83,18): „Lass sie beschämt und erschreckt sein für immer, mit Scham bedeckt sein und umkommen.“ Auch in Psalm 137, der während des babylonischen Exils geschrieben wurde, heisst es (Ps 137,8-9): „Tochter Babel, du Verwüsterin! Glücklich, der dir vergilt und dein Tun, das du uns angetan hast. Glücklich, der deine Kinder ergreift und sie am Felsen zerschmettert!“

Die Fluchpsalmen schaffen für Christen ein Problem. Wie können solche Gefühlsregungen Teil der inspirierten Schriften sein? Warum machen gottesfürchtige Männer solche Aussagen? Warum heisst Gott solche Aussagen gut, wie es hier offensichtlich der Fall ist?

Für die durch Fluchpsalmen aufgeworfenen Fragen, können verschiedene Lösungen gegeben werden. Zwei davon dürften besonders hilfreich sein. Erstens, die Psalmen drücken menschliche Empfindungen aus. Die Fluchpsalmen drücken treffend die Gefühlslage des Psalmisten (und anderer) aus, ohne daraus zu schliessen, dass Gott diese Gefühle unterstützt. (Schlechte Gefühle sind nicht zwingend sündhafte Gefühle.) Zweitens, das Volk Israel war Gottes Volk, d. h. ihre Feinde waren Gottes Feinde. Die Worte des Psalmisten können daher als Appell an die Gerechtigkeit verstanden werden, die eingehalten werden sollten und allen zum Zeugnis dienen, damit die heidnischen Völker begreifen, dass sie nicht ohne Konsequenzen gegen Gott kämpfen und sein Volk verfolgen können. Der Psalmist scheint diese Zielsetzung im Sinn gehabt zu haben, während er für die „Beschämung und Zerstörung“ der Feinde Israels bat (Psalm 83,19 folgt direkt dem oben zitierten Vers als Beispiel eines Fluches). Er fügt hinzu: „damit sie erkennen, dass du allein - Herr ist ja dein Name! – der Höchste bist über die ganze Erde!

9. Suche nach dem Nutzen, den der Psalm für uns Menschen heute hat. Die Psalmen haben einen Nutzen für uns heute darin, dass (a) sie manchmal prophetisch über Christus reden, (b) sie uns Wahrheiten über Gott lehren und wie er mit den Menschen umgeht, (c) sie im Gottesdienst gebraucht werden können (Eph 5,19; Kol 3,16), und (d) sie zu unserem Herzen sprechen. Viele Gefühle drücken allgemein bekannte Gedanken aus, die die Menschheit über Jahrhunderte prägten. Wenn wir einen Psalm lesen, denken wir ähnlich und sagen: „Ja, genau so fühle ich mich!“ Wir finden Trost, wenn wir sehen, dass Gottes Volk dieselben Gefühle hatte, wie Menschen in jedem Zeitalter. Die Psalmen zeigen auch Möglichkeiten, wie wir unsere Gefühle Gott gegenüber ausdrücken können und so beim Herrn Trost finden.

Alttestamentliche Weisheitsliteratur

Im Alten Testament werden vier weitere poetische Bücher als „Weisheitsliteratur” bezeichnet: Hiob, Sprüche, Kohelet und das Hohelied Salomos. Die „Weisheitsliteratur” wird in zwei Arten unterteilt: Die „optimistische”, die lehrt, dass es den Gerechten immer gut geht (Sprüche), und die „pessimistische”, die diesen Standpunkt anzweifelt (Hiob und Prediger). Es gibt eine Quelle, die diese beiden Arten von Literatur unterscheidet, indem sie von „sprichwörtlicher Weisheit” und „spekulativer Weisheit” spricht. Das Hohelied Salomos könnte als dritte Klassifizierung innerhalb der Weisheitsliteratur betrachtet und als „lyrische Weisheit” bezeichnet werden.


Das hebräische Wort für „Weisheit” ist hokmah. In irgendeiner Form taucht es mehr als 300-mal im Alten Testament auf, mehr als die Hälfte davon in Hiob, in den Sprüchen und in Kohelet. Eine Reihe anderer Wörter dienen als Synonyme.

Wie sollte „Weisheit” definiert werden? Unterschiedliche Autoren geben dazu verschiedene Antworten (siehe griechische Begriffe1-29). Der hebräische Begriff „hokmah” bedeutet „Weisheit”, „Erfahrung” oder „Klugheit”. D. A. Hubbard sagte, es gehe grundsätzlich um „die Kunst, erfolgreich zu sein.” Gleason L. Archer sprach von „Personen, die in der Lage waren, in kritischen Situationen die richtige Antwort zu geben” (siehe Gen 41,39 und 2. Samuel 14,2-24). Fee und Stuart erklärten: „Weisheit ist die Fähigkeit, im Leben gottgefällige Entscheidungen zu treffen.” In den Schriften werden folgende Merkmale genannt:

1. Die Weisheit kam von Gott (siehe 1. Könige 4,29-34; Hiob 12,13-25; Jesaja 31,2; Sprüche 1,7; 2,6; 9,10).

2. Auch andere Völker als die Israeliten, hatten weise Männer und schrieben Weisheitsliteratur (siehe 1 Könige 5,7; 10,1-9, 23-25; Hiob 34,2).

3. Das Wissen über „weltliche” Themen war Teil der Weisheit (siehe 1. Könige 4,32-33). Praktisches Wissen oder Weisheit, sowie „religiöse” Einsicht, kamen von Gott.

4. Die Weisheit resultierte damals aus Erfahrung, Beobachtung und Menschenkenntnis und beinhaltete daher die Fähigkeit, wahrscheinliche Folgen zu erkennen (siehe 1. Könige 3,16-28). „Weise” war fast gleichbedeutend mit „alt” (siehe Hiob 12,12; 15,10; vgl. Hiob 32,9; Prediger 4,13.)

5. Weisheit war im Wesentlichen praktisch, eine Fähigkeit oder Geschicklichkeit, die man brauchte, um erfolgreich zu sein. Das Wort „Weisheit” wurde daher auf diejenigen angewandt, die über technische Geschicklichkeit (Exodus 31,2-5) oder militärische Fähigkeiten (Jesaja 10,13) verfügten; auf diejenigen, die Könige berieten (2. Samuel 15,31-17,23); und auf diejenigen, die scharfsinnig waren, selbst wenn sie Unrecht taten (2. Samuel 13,3; 1. Könige 2,9).

6. Offensichtlich wurde ein „weiser Mann” schliesslich zu einem offiziellen Amt in Juda eingesetzt (siehe Jeremia 18,18). Auch in anderen Ländern gab es „weise Männer” (siehe Genesis 41,8; Daniel 2,12-14.21-27). Israel hatte auch „weise Frauen” (2. Samuel 14,2; 20,16).

7. Weisheit war nicht alles, was nötig war, um Gott zu gefallen. Sie hielt den Weisen nicht unbedingt davon ab, zu sündigen (1. Könige 11,1-8).

8. Idealerweise war Weisheit eng mit Rechtschaffenheit verbunden (siehe Sprüche 1,7; 1,29; 2,1-15).

9. Die Weisheit war zwar praktisch, aber sie beinhaltete auch eine Diskussion über die grössten Fragen der Zeit – philosophische Themen, wie den Sinn des Lebens und den Grund des Leidens.

Alttestamentliche Weisheitsliteratur auslegen 

Folgende Richtlinien helfen bei der Auslegung von Texten aus der Weisheitsliteratur:

(1) Bedenke, dass der grösste Teil der Weisheitsliteratur in poetischer Form geschrieben wurde und demzufolge als Poesie ausgelegt werden soll. Weil es sich um poetische Texte handelt, finden wir in ihnen oft eine bildhafte Sprache. Es geht nicht um Gesetze, die von den ersten Lesern befolgt werden mussten und schon gar nicht um Gesetze, die uns heute betreffen.

(2) Beachte, dass das geschichtliche Umfeld der einzelnen Abschnitte von geringerer Bedeutung ist, als bei anderen Büchern. Die Weisheitsliteratur umspannt Jahrhunderte. Darum ist es unmöglich, bestimmte Teile der Sammlung auf eine bestimmte Zeitperiode zu beschränken. Es geht in diesen Büchern vielmehr um eine universale Botschaft, die, wenn sie richtig ausgelegt wird, für jeden Ort und jede Zeit nützlich ist.

(3) Denke daran, dass jede Stelle im Licht seiner Gesamtbotschaft des jeweiligen Buches verstanden werden sollte. Jedes der vier Bücher hat ein eigenes Hauptthema und verfolgt seinen eigenen Zweck. Eine Stelle in einem der vier Bücher so auszulegen, dass sie dem Zweck des Buches zuwiderläuft (oder nicht dazu beiträgt, ihn zu erreichen), bedeutet, etwas falsch zu verstehen.

Lasst uns jedes Buch einzeln anschauen:

Hiob erzählt uns von einem gerechten Mann, der viel leidet. Er verliert sein ganzes Eigentum, seine Familie und seine Gesundheit. Während seiner Trauer kommen drei weise Männer aus dem Osten, um ihn zu trösten. Die Vier verwickeln sich in eine Auseinandersetzung, die den grössten Teil des Buches ausmacht. Die Diskussion kreist um die Frage, warum Hiob leiden muss. Die Freunde behaupten, dass Hiob wegen seines sündhaften Lebens an seinen Leiden selbst schuld sei. Später kommt ein junger Mann dazu, der Hiob auch Sünde vorwirft. Hiob besteht darauf, niemals so gesündigt zu haben, dass er eine so hohe Strafe verdiene. Er leidet zu Unrecht – eine Idee, die die Freunde nicht unterstützen. Gegen Ende des Buches erscheint Gott dem Hiob und stellt ihm Fragen – Fragen, die Hiob nicht beantworten kann. Gott bestätigt Hiob, die Wahrheit über ihn gesprochen zu haben, die anderen hingegen nicht und segnet ihn wieder.

In dieser Auseinandersetzung geht es eindeutig um die Frage, warum Gerechte leiden müssen. Eine Antwort, die dieses Buch lehrt, ist: Leiden sind nicht immer die Folge von Sünden. Der Gerechte kann und wird leiden, aber auch der Ungerechte. Warum? Die einzige Antwort, die dieses Buch gibt, ist die, dass Gott Leiden zulässt und die Menschen nicht immer Gottes Absichten kennen.

Obschon wir aus dem Buch Hiob wichtige Wahrheiten über Gott und Leiden lernen können, müssen wir bei der Auslegung einer Stelle sehr vorsichtig sein. Vieles, was die Freunde sagen, ist nicht wahr – und sogar Hiob bereut später einiges, was er gesagt hat! Das Streitgespräch in Hiob ist eine inspirierte Sammlung von Aussagen nicht-inspirierter Männer, die oft falsch lagen. Wir können daher nicht eine beliebige Stelle aus diesem Buch herausnehmen und sie als massgebend und bindend darstellen, indem wir behaupten, es handle sich um die Wahrheit. Jede Stelle muss im Licht des Hauptzweckes des gesamten Buches ausgelegt werden.

Die Sprüche bilden ein Buch von weisen Sprüchen, die dem Leser in allen möglichen Lebenslagen versuchen zu helfen – persönlich, sozial, wirtschaftlich und religiös. Die Sprüche sind jedoch genau das, was sie sind: Sprüche. Ein Spruch oder eine Redensart hält an etwas Allgemeinem fest, was aber nicht immer wahr ist. Die Aussagen in den Sprüchen geben gute Ratschläge, aber nicht im Sinne einer hundertprozentigen Garantie auf Erfolg. Wie kann diese Tatsache an einem Beispiel illustriert werden? Betrachten wir Sprüche 26,4: „Antworte dem Toren nicht nach seiner Narrheit, damit nicht auch du ihm gleich wirst! Antworte dem Toren nach seiner Narrheit, damit er nicht weise bleibt in seinen Augen.“

Widerspricht sich hier die Bibel? Sie sagt beides: „Antworte nicht nach seiner Narrheit“ und „antworte nach seiner Narrheit“. Es kommt auf die Umstände an. Manchmal ist es besser dem Narren zu antworten, manchmal nicht. Die beiden Aussagen mit gegenteiligem Rat, zeigen, dass die Aussagen der Sprüche nicht als absolut göttliche Gesetze verstanden werden dürfen.

Folgende von Fee und Stuart übernommene „hermeneutsche Richtlinien“ können bei der Auslegung der Sprüche helfen.

1. Die Sprüche sind keine gesetzliche Garantie von Gott. Die Sprüche geben weise Ratschläge, um bestimmte praktische Ziele zu erreichen. Aber sie sind keine göttliche Erfolgsgarantie. Die einzelnen Segnungen, die in den Sprüchen erwähnt werden, sind, wenn sie befolgt werden, eine mögliche Folge des weisen Lebensstils … Aber nirgends versprechen sie einen automatischen Erfolg.

2. Die Sprüche müssen als Sammlung gelesen werden. Jeder Spruch muss mit anderen Sprüchen abgewogen und mit den übrigen Schriften verglichen werden.

3. Sprüche sind zur Erinnerung geschrieben und sind keine perfekten Formulierungen. Kein Spruch enthält die vollkommene Wahrheit. Kein Spruch ist so perfekt formuliert, dass er dem unmöglichen Anspruch genügt, in jeder Lebenslage zu jeder Zeit angewendet werden zu können.

4. Einige Sprüche müssen „übersetzt“ werden, damit wir sie wertschätzen können. Eine gute Anzahl von Sprüchen beziehen sich auf praktische Handlungen und Einrichtungen im Alten Testament, die uns heute fremd sind. Wenn wir diese Sprüche nicht in unsere moderne Zeit übertragen (d. h. „übersetzen“), scheint ihre Anwendung bedeutungslos zu sein oder geht ganz verloren.

Der Prediger (oder Kohelet) ist ein Buch über den Sinn des Lebens. Dabei geht es um die Nutzlosigkeit – die Vergänglichkeit oder die Bedeutungslosigkeit – von dem, was Menschen tun und worüber sie sich in ihrem täglichen Leben sorgen. Es ist ein sehr negatives, pessimistisches Buch, das den Leser zur Aussage bewegt: „Was soll es? Das Leben hat eh keinen Sinn?“ Doch dann folgt die Schlussfolgerung zu der das ganze Buch hinführt (Koh 12,13-14): „Das Endergebnis des Ganzen lasst uns hören: Fürchte Gott und halte seine Gebote! Denn das soll jeder Mensch tun. Denn Gott wird jedes Werk, sei es gut oder böse, in ein Gericht über alles Verborgene bringen.“

Jede Stelle im Buch muss im Licht dieses Gesamtziels ausgelegt werden. Bibelstellen, die aus dem Gesamtzusammenhang des Buches herausgerissen und als endgültiges Gotteswort für alle möglichen Themen und Situationen angewandt werden, verlieren ihre ursprüngliche Bedeutung.

Das Hohelied enthält eine wunderschöne Poesie über Romantik und erotische Liebe. Weil es so frei über die Liebe zwischen Mann und Frau spricht, fanden es religiöse Menschen – anfangs die Juden, dann auch die Christen – schwierig auszulegen.

Weil man nicht wahrhaben wollte, dass ein inspiriertes Buch über so ein Thema spricht, neigte man dazu es zu vergeistlichen und allegorisch auszulegen. Im jüdischen Zusammenhang wurde es auf Gott und seine Liebe zu seinem Volk bezogen. Im christlichen Zusammenhang bezog man sich auf die Liebe Christi zu seiner Gemeinde. Obschon die Bibel die Beziehung zwischen Christus und der Gemeinde mit der Beziehung eines Ehemannes zu seiner Frau vergleicht, enthält das Buch selbst keinen Hinweis, dass das Hohelied allegorisch ausgelegt werden soll. Andere Auslegungen sind möglich. Es ist wohl das Vernünftigste, dieses Buch so zu nehmen, wie es geschrieben wurde und den wörtlichen und offensichtlichen Sinn zu akzeptieren: Der Zweck ist, die Schönheit und Heiligkeit der ehelichen Liebe zu verstehen, die Gott für uns Menschen bestimmt hat. Einen Vers aus diesem Buch herauszunehmen und ihn in einer Weise auszulegen, die dem Zweck des Buches widerspricht, führt zu falschen Schlussfolgerungen.

Schlussfolgerung

Wenn wir die Sprüche nicht als göttlich inspirierte Gebote betrachten können, wenn wir nicht jedes Wort in Hiob und im Prediger als göttliche Wahrheit verstehen dürfen und wenn das Hohelied nichts mehr als eine romantische Liebe beschreibt, welchen Wert haben dann diese Bücher für uns heute? Wenn eine Diskussion nicht mit einem klaren Satz aus diesen Büchern beendet werden kann, weil sie Worte Gottes sind, wie können uns dann diese Bücher helfen? Solange wir nach dem Sinn suchen, den Gott für uns durch diese Weisheitsbücher vorgesehen hat, können wir viel von ihnen profitieren. Wir lernen …

• von Hiob, falls der Gerechte leidet, er aufgerufen wird, Gott zu loben und ihm treu zu bleiben (Hiob 1,21,22);

• aus den Sprüchen praktische Anleitungen, die uns in einer erfolgreichen Beziehung zu Gott und den Menschen helfen (Spr 1,1-7);

• vom Prediger (Kohelet), dass der Sinn des Lebens darin besteht, Gott zu fürchten und seine Gebote zu halten (Koh 12,13);

• aus dem Hohelied, dass die sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau in der Ehe ein Geschenk Gottes ist und seine Zustimmung erhält.

Wenn wir diese kostbaren Lektionen verstehen, empfangen wir aus dem Wort Gottes die Weisheit, die er uns schenken möchte (siehe Kommentar zu Jak 3,13: Glaube wandelt in Weisheit).

Vielleicht wird der Wert dieser vier Weisheitsbücher durch die Tatsache sichtbar, dass sie sich mit vier Themen befassen, die auch heute die Menschen am meisten beschäftigen:

Leiden (Hiob),

Erfolg (Sprüche),

Lebenssinn (Prediger oder Kohelet),

Sexualität (Hoheslied von Salomo).