Begriffe1-29: Sophia – das volle geistige Rüstzeug

Griechische Begriffe 1

29.  Sophia  = Weisheit

 von William Barclay

 

Die Griechen hatten drei grosse Begriffe, um den Verstand eines Menschen zu beschreiben. Wenn jemand diese drei Eigenschaften aufwies, besass er einen wohl ausgerüsteten Verstand. Die neutestamentlichen Schreiber übernahmen diese Wörter, denn sie erkannten, dass Jesus - und nur er allein - alle drei Eigenschaften in sich vereinte.

Das erste dieser Wörter ist sophia. Es wird allgemein mit Weisheit übersetzt; aber das, was es wirklich sagen will, ist die Weisheit über letzte Dinge. In den griechischen Schriften findet sich manche grossartige Definition von sophia. Die bekannteste ist, dass sophia „die Erkenntnis menschlicher und göttlicher Dinge und ihrer Ursachen ist“ (Clemens von Alexandrien, Stromata 1.30.1).

Aristoteles beschreibt sophia als „die vollkommenste Form der Erkenntnis, nicht nur in Bezug auf Schlussfolgerungen, sondern auch hinsichtlich der grundsätzlichen Ursachen.“ Er sagt, dass sophia „vollendete Erkenntnis der höchsten Dinge ist“ (Nikomachische Ethik 1141). Augustin meint, dass sophia „die Erkenntnis ewiger Dinge“ betrifft (De Div. Quaest. 2.2.). Cicero bezeichnet sophia, das er mit sapientia übersetzt, „als Erkenntnis der menschlichen und göttlichen Dinge“ (Tusculanae disputationes 4.26). Sophia, Erkenntnis der höchsten Dinge, ist nichts anderes, als die Erkenntnis Gottes. Sophia ist das Äusserste an Erkenntnis, das der menschliche Verstand erreichen kann.

Man sieht, dass sophia, obwohl sie auch in etwas Böses verkehrt werden kann, an sich immer etwas Edles ist und immer Rechtschaffenheit einschliesst, Platon sagt: „Alle Weisheit - sophia ohne Gerechtigkeit und Tugend ist Schlauheit und nicht Weisheit“ (Menexenos 19). Xenophon zitiert Sokrates: „Gerechtigkeit und jede andere Form von Tugend ist Weisheit - sophia“ (Memorabilien 3.9). Für die Griechen gingen sophia - Weisheit, Rechtschaffenheit und vornehme Gesinnung Hand in Hand. Das eine kann nicht ohne das andere bestehen.

Der zweite dieser drei grossen Begriffe ist phronesis, was meistens mit Klugheit oder Vernunft übersetzt wird. Der grundsätzliche Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass sophia theoretischer und phronesis praktischer Natur ist. Sophia hat mit dem Verstand des Menschen, mit seinen Gedanken zu tun, während phronesis sich auf sein Leben, seine Taten bezieht.

Aristoteles definiert phronesis als „Wahrheit... hinsichtlich der Taten, die für den Menschen gut sind“ (Nikomachische Ethik 1140). Er bezeichnet sie als „eine Tugend des Verstandes, wodurch die Menschen zu klugen Entscheidungen über Gut und Böse in Bezug auf Glück gelangen können“ (Redekunst 1366). Platon bezeichnet es als „die Fähigkeit des Verstandes, die entscheiden kann, was zu tun und was zu unterlassen ist (Definition 4.11). Cicero deutet phronesis, das er mit prudentia übersetzt, als „Erkenntnis dessen, was man suchen und was man meiden soll.“ Philo erklärt phronesis als den „richtigen Mittelweg zwischen List und Torheit“ (De Praemiis et Poenis 14).

Phronesis ist eine ausserordentlich praktische Tugend. Ein Schreiber der Papyri spricht von „phronesis - Klugheit, Besonnenheit, die das Besitztum eines Menschen vergrössert.“ In einem pessimistischen Papyrusgedicht wird gesagt: „Wer da denkt durch phronesis - Klugheit Reichtum zu gewinnen, dessen Hoffnung ist vergeblich. Denn alles im Leben geschieht durch tyche - Zufall und nicht durch phronesis.“

Die klassischen Schreiber vergleichen sophia und phronesis oft miteinander und stellen sie einander gegenüber. Philo sagt, dass sophia mit dem Dienst für Gott zu tun hat, phronesis dagegen mit der Ordnung des menschlichen Lebens (De Praemiis et Poenis 14). Aristoteles erklärt, dass sophia mit unveränderlichen Dingen zu tun hat, phronesis dagegen mit veränderlichen, mit dem, was in jeder Situation ratsam ist (Magn. Mor. 1197 a 34).

Das dritte der griechischen Wörter, das den menschlichen Verstand erklärt, ist synesis. Wörtlich bedeutet es etwas, das vereint, das zusammenbringt; man kann sagen, dass es die Fähigkeit ist, Tatsachen sinnvoll zu kombinieren. Aristoteles schreibt, dass synesis nur mit Urteilsvermögen zu tun hat (Nikomachische Ethik 1143). Demosthenes bringt zum Ausdruck, dass synesis „eine Art Entscheidung zwischen guten und gemeinen Dingen ist.“ Als Thukydides beschreibt, wie man das Wagnis des Krieges richtig abschätzen kann, sagt er: „synesis festigt den Mut“ (2.62). Das heisst, ein kluges Abschätzen der Lage vermittelt den rechten Standpunkt, Stärke und Mut. In einer Äusserung über ein barbarisches Volk anerkennt er dessen Mut und Stärke, erklärt aber gleichzeitig: „In allgemeiner Intelligenz - synesis und den Künsten eines zivilisierten Lebens stehen sie nicht auf gleicher Stufe mit anderen Rassen“ (Thukydides, 2.97). Sie haben die Fähigkeit der Beurteilung nicht entwickelt, wie sie den zivilisierten Völkern eigen ist. Aristoteles bringt zum Ausdruck, dass Kinder synesis entwickeln. „Eltern lieben ihre Kinder, sobald sie geboren sind“, sagt er, „aber die Kinder lieben ihre Eltern erst nach einiger Zeit, nachdem sie Verständnis - synesis erlangt haben oder zumindestens Wahrnehmungen machen können“ (Nikomachische Ethik 1161). Aus all diesem ersehen wir, dass das Wesen von synesis kritisches Urteilsvermögen ist. Es ist die Fähigkeit zwischen verschiedenen Handlungsweisen, Werten und Verhältnissen zwischen Menschen zu unterscheiden. Synesis ist das Vermögen zu prüfen, zu unterscheiden, zu beurteilen.

Wir können nun klar erkennen, dass der Verstand in dreierlei Weise voll ausgerüstet ist: durch die Weisheit, die letzte, endgültige Dinge sehen und verstehen kann, die Klugheit, die mit praktischen Problemen des täglichen Lebens umzugehen weiss und die Einsicht, die die Dinge beurteilen und prüfen und das rechte Ziel und die rechte Handlungsweise in jeder Situation wählen kann.

Es ist interessant und wichtig zu bemerken, dass die Bibel immer wieder die theoretische Weisheit von sophia und die praktische Klugheit von phronesis und synesis miteinander verbindet. Aus der Sicht der Bibel braucht der Mensch beides. Salomo betete um Weisheit - sophia und Verstand - phronesis, um ein weises und verständiges Herz (1. Könige 3,9-12; 5,9). In der Darstellung derselben Begebenheit in der Chronik werden in 1Chr 22,12 und 2Chr 1,10 Weisheit - sophia und Intelligenz - synesis genannt. Die vier weisen Jünglinge im Danielbuch besassen Wissen, Geschicklichkeit, Gelehrsamkeit und Weisheit (Daniel 1,17). Weisheit - sophia und Klugheit - phronesis fordern beide die Menschen auf, ihnen Gehör zu schenken (Sprüche 8,1). Die Gebote Gottes zu halten, ist das Zeichen von Weisheit und Verstand (5. Mose 4,6). Jesaja spricht von der Weisheit der weisen Menschen und dem Verstand - synesis der Verständigen (Jesaja 29,14).

Ein wirklich Weiser besitzt beide, theoretische und praktische Weisheit. Anatole France sagte von bestimmten Gelehrten, sie hätten Tinte in den Adern statt Blut und hätten nie aus dem Fenster geschaut. Das Bild eines weisen Mannes ist sehr oft das eines Gelehrten, der sich in sein Studierzimmer einschliesst, sich in die Bücher vergräbt und nur seinen Forschungen lebt; es ist das Bild eines Menschen, der keine rechte Verbindung zum Leben hat und unfähig ist, die täglichen Anforderungen des Lebens zu erfüllen. Vom biblischen Standpunkt und auch vom Standpunkt der Griechen aus gesehen, ist ein solcher Mensch aber recht unvollkommen, denn wenn er auch Weisheit - sophia sein eigen nennen mag, so besitzt er doch offensichtlich weder phronesis noch synesis. Andererseits ist die allgemeine Vorstellung vom praktisch veranlagten Menschen das eines mit den zweckmässigen Dingen des Lebens ganz ausgefüllten Mannes, der weder Zeit für theologische oder philosophische Überlegungen, noch für viel Denken überhaupt hat. Auch solch ein Mensch ist unvollkommen, denn obwohl er phronesis und synesis hat, besitzt er durchaus keine sophia. Das Bild der Bibel jedoch ist das eines vollkommenen Menschen, der weise ist in Bezug auf die Ewigkeit und tauglich für das Leben in dieser Zeit.

Wir müssen nun diese Wörter im NT selbst betrachten und werden gleichzeitig auch auf die entsprechenden Adjektive achten. Das zu sophia gehörende Adjektiv ist sophos - weise; zu phronesis gehört das Adjektiv phronimos - klug und zu synesis - Verständnis synetos - verständig.

1. Weisheit ist das Eigentum Gottes (Offb 7,12). Jesus spricht von der Weisheit Gottes (Lk 11,49). Auch Paulus redet von der Weisheit Gottes (Röm 11,33) und von der manigfaltigen Weisheit Gottes (Eph. 3,10). Gott zu erkennen ist die einzige, wirkliche Weisheit.

2. Weisheit ist eine Eigenschaft Jesu (Offb 5,12). Er nahm zu an Weisheit, als er bei seinen Eltern in Nazareth lebte (Lk 2,40.52). Als er in Nazareth predigte, fragten ihn die Menschen, woher er die hohe Weisheit habe, die in seinen Worten zum Ausdruck kam (Mt 13,54, vgl. Mk 6,2). Jesus selbst ist Weisheit, die Weisheit Gottes (1Kor 1,24.30). In ihm sind alle Schätze der Weisheit verborgen (KoI 2,3). Jesus ist Weisheit, denn er kam, um uns die Weisheit Gottes zu bringen, die allein von Bedeutung ist.

3. Weisheit war der am meisten hervortretende Charakterzug aller grossen Männer. Salomo besass Weisheit (Mt 12,42, vgl. Lk 11,31). Weisheit hielt Joseph auf dem rechten Weg und liess ihn zur Grösse in Ägypten aufsteigen (Apg 7,10). Mose war gelehrt in Weisheit (Apg 7,22). Die Voraussetzung zur Erwählung zum ersten Amt in der Urgemeinde war die Erfüllung mit dem Heiligen Geist und mit Weisheit (Apg 6,3). Stephanus verwirrte die Juden durch seine Weisheit (Apg 6,10). Propheten und weise Männer werden auf dieselbe Stufe gestellt (Mt 23,34). Erst dann, wenn ein Mensch Gott erkennt, ist er wirklich weise.

4. Weisheit ist das Kennzeichen des Christen. Jesus verhiess seinen Nachfolgern Weisheit, mit der sie ihren Feinden und Verfolgern begegnen konnten (Lk 21,15). Es war das Gebet des Apostels Paulus, dass Gott den Ephesern Weisheit und Einsicht geben möge (Eph 1,8) und den Geist der Weisheit (Eph 1,17). Weisheit ist der Gegenstand seines Gebets und seiner Belehrung in KoI 1,9.28. Die Christen sollen in Weisheit wandeln (KoI 4,5). Der Mensch ist weise, der die seinem Glauben entsprechenden Werk hervorbringt (Jak 3,13). Der Christ hat jene Weisheit, die ihn fähig macht, vor seinen Gegnern zu bestehen und seine Probleme zu lösen. Der Christ ist weise in Bezug auf das Gute (Röm 16,19).

5. Weisheit ist verbunden mit Gebet, mit dem Heiligen Geist und mit Gott. Die sieben Diakone mussten voll des Heiligen Geistes und Weisheit sein (Apg 6,3). Gott gibt sie dem Menschen, der darum bittet (Jak 1,5). Die wirkliche Weisheit kommt von oben (Jak 3,15). Wir haben schon erwähnt, dass Paulus für die Christen um Weisheit betet (Eph 1,17; KoI 1,9). Das Wort der Weisheit in der Verkündigung ist eine Gabe des Heiligen Geistes (1Kor 12,8). Die einzige Weisheit, auf die es ankommt, hat der Mensch nicht selbst entdeckt, sie ist ein Geschenk Gottes.

6. Und dennoch kann Weisheit gelehrt werden, denn Paulus bemüht sich sie zu lehren (KoI 1,28, vgl. KoI 2,3). Es gibt eine Entwicklung in der Weisheit, denn Paulus redet Weisheit zu den reifen Christen (1Kor 2,6-7). Wir können deutlich erkennen, dass es ein Wachstum in der Weisheit gibt. Obwohl Weisheit nicht eine Errungenschaft des Verstandes ist, kann sie doch nicht ohne eifriges Bemühen des Verstandes erlangt werden. Echte Weisheit wird erreicht, wenn der Geist Gottes dem suchenden Verstand des Menschen zu Hilfe kommt, aber der Mensch muss anfangen zu suchen, wenn Gott ihm begegnen soll. Obwohl Weisheit ein Geschenk Gottes ist, wird sie doch der geistig träge Mensch nicht erlangen.

7. Weisheit erfasst den wirklichen Sinn der Dinge (Offb 13,18; 17,9). Gottes Botschaft ist für den Menschen da, der Augen hat, sie zu sehen und dessen Verstand bereit ist, sie aufzunehmen. Auch hier ist es wahr, dass wer sucht, der findet.

So gross und erhaben Weisheit auch ist, kann sie dennoch entarten. Vor allem im 1. Korintherbrief hat der Apostel viel über falsche Weisheit zu sagen.

1. Die degenerierte Weisheit ist eine weltliche Weisheit (1Kor 1,20.26; 2,6; 3,18). Es ist eine Weisheit, die sehr wohl weiss in dieser Welt vorwärts zu kommen und Reichtümer zu sammeln, die aber keine Ahnung von dem hat, was wirklich von Bedeutung ist.

2. Sie ist eine Wortweisheit, eine Weisheit der Worte, die schliesslich das Kreuz Christi verdunkeln (1Kor 1,17). Paulus lehnt es ab, mit verlockenden Worten menschlicher Weisheit zu predigen (1Kor 2,1.4-5.13). Als Paulus in so strenger Weise die weltliche Wortweisheit verdammte, sprach er von der Situation seiner Zeit. Die Griechen liebten Worte, und eine wohl bekannte Figur in der griechischen Welt war der Sophist, ein Lehrer der gewandten Redekunst. Er war ebenso berühmt wie heutzutage die Filmstars. Die Sophisten hatten einen Fehler. Sie legten grösseren Wert darauf, wie sie etwas sagten, als darauf was sie sagten. Es war die Gewandtheit der Rede, worauf sie bedacht waren und ihr oberstes Ziel war der Beifall ihrer Zuhörer. Sie waren bestrebt, sich selbst ins rechte Licht zu rücken. Chrysostomos sagt von den Sophisten: „Sie warten auf das Gemurmel der Menge ... Wie Menschen im Dunkeln, so gehen auch sie immer in der Richtung des Beifalles und Geschreis“ (Dio Chrysostomos, Oratio 33). Einer der Sophisten sagte zu Epiktet: „Ich suche dein Lob!“ „Was meinst du mit meinem Lob?“ fragte ihn Epiktet, „Ich möchte, dass du bravo und wunderbar sagst“, war die Entgegnung des Sophisten (Epiktet, Reden 3.23.24). Epiktet beschreibt die Szene nach einer Vorlesung. Der Redner fragt: „Was hieltst du heute von mir?“ „Bei meinem Leben, du warst bewundernswert!“ „Wie gefiel dir meine beste Stelle?“ „Welche war das?“ „In der ich Pan und die Nymphen beschrieben habe.“ „Oh, sie war aussergewöhnlich gut“ (Reden 3.23.11).

Paulus kannte die Prediger und Lehrer, die mehr auf treffende Rede, als auf die Wahrheit achteten, die bestrebt waren, ihre eigene Gewandtheit zu zeigen und den Beifall der Menge zu gewinnen. Er kannte sie, denen die Meinung der Menschen mehr galt, als ihr Ansehen bei Gott, die sich selbst in den Blickpunkt stellten, statt die Menschen auf Christus hinzuweisen. Das ist es, was Paulus als die Weisheit dieser Welt bezeichnet. Sie ist auch heute noch lebendig.

3. Diese Weisheit erkannte Gott nicht (1Kor 1,21), sie war eher verführerisch als belehrend (1Kor 2,4-5). Sie war Menschenweisheit und nicht Gottes Weisheit (1Kor 2,13). Sie war die Weisheit eines geschickten Redners, dem es mehr darum ging, seine geistige Gewandtheit zu zeigen, als nach der Wahrheit zu suchen (1Kor 1,20). Sie war eitel, denn sie half niemandem (1Kor 3,20). Sie ist zur Vernichtung bestimmt, Gott wird sie verdammen und es wird offenbar werden, dass sie in Wirklichkeit Torheit war (1Kor 1,19.27; 3,19).

Die einzig wirkliche Weisheit entspringt nicht dem Hochmut, sondern der Demut. Der weise Lehrer stellt sich nicht selbst in den Mittelpunkt, sondern zeigt über sich selbst hinaus. Die Weisheit hört auf, wenn der Mensch nur danach trachtet, geistreich zu erscheinen. Das Predigen ist entartet, wenn der Prediger den Beifall sucht; wenn die Person oder die Methoden des Lehrers die Gestalt Christi verdunkeln, dann ist nur noch Torheit vorhanden, die am Ende die verdiente Verdammnis erfahren wird.

Nun wollen wir noch die zusammengehörigen Wörter phronesis und phronimos, synesis und synetos untersuchen. Das Substantiv phronesis kommt zweimal vor im NT, in Lukas 1,17 und in Epheser 1,8. Aber das entsprechende Adjektiv phronimos finden wir öfters.

Wie wir gesehen haben, ist phronesis die praktische Klugheit, die in jeder Lage erkennt, was zu tun ist. Der Mann, der sein Haus auf einen Felsen baute, war phronimos (Mt 7,24). Im Angesicht der Welt sollen die Jünger phronimos sein wie die Schlangen (Mt 10,16). Der kluge Haushalter ist phronimos (Mt 24,45, vgl. Lk 12,42). Die Jungfrauen, die an das Öl für ihre Lampen dachten, sind phronimos (Mt 25,2.4.8-9). Paulus appelliert an den gesunden Menschenverstand der Korinther, wenn er schreibt: „Ich rede zu euch, als zu klugen - phronimoi Männern” (1Kor 10,15).

Diese praktische Weisheit kann gelegentlich in Einbildung und Eigendünkel ausarten (Röm 11,25; 12,16; 1Kor 4,10; 2Kor 11,19). Ein Mensch kann von seinen eigenen Fähigkeiten zu sehr eingenommen sein. In Barries Roman „Sentimental Tommy“ lesen wir, wie Tommy, wenn er in der Schule geschickt gewesen war, zu Hause zu seiner bewundernden Schwester zu sagen pflegte: „Bin ich nicht ein Wunderkind?“ So kann die praktische Weisheit ausarten.

Es gibt zwei Bibelstellen, die die Bedeutung von phronimos besonders deutlich machen. Die Schlange, die Adam und Eva im Paradies verführte, wird phronimos genannt (1. Mose 3,1); ebenso der ungerechte Haushalter (Lk 16,8). Phronesis ist fähig, in jeder Lage das Rechte zu tun; es ist die praktische Klugheit eines Mannes, die niemals ratlos ist.

Synesis und synetos kommen im NT nicht sehr oft vor. Der Schriftgelehrte antwortete Jesus, dass der Mensch Gott lieben soll von ganzem Herzen, mit allem Verständnis - synesis, mit ganzer Seele und ganzer Kraft. Die jüdischen Rabbiner wunderten sich über den Verstand - synesis Jesu, als er im Tempel mit ihnen redete (Lk 2,47). Der römische Landvogt Sergius Paulus wird als ein verständiger - synetos Mann beschrieben (Apg 13,7). In Eph 3,4 bezeichnet synesis des Paulus Verständnis von dem Geheimnis Gottes. In Kol 1,9 betet Paulus um sophia und synesis für die Christen und in Kol 2,2 sagt er, dass synesis zu sicherer Erkenntnis führt. Paulus betet für den jungen Timotheus um Einsicht - synesis in allen Dingen (2Tim 2,7). Synesis kann aber auch zur Weltlichkeit und Eitelkeit führen, in diesem Fall wird Gott sie vernichten (1Kor 1,19). Jesus sagt, dass die grossen Dinge vor den Weisen und Klugen - sophoi und synetoi - verborgen sind, aber den Unmündigen offenbart werden (Mt 11,25, vgl. Lk 10,21). Das Wesen von synesis ist die Fähigkeit zur Beurteilung, zum Unterscheiden, die, wie Lightfoot es sagt, „die ganze Tragweite der Dinge erkennt.“ Es ist Unterscheidungsvermögen und weise Beurteilung. Synesis kann den tieferen Sinn und das endgültige Ergebnis einer Handlungsweise erkennen. Synesis sieht nicht nur das, was im Augenblick ist, sondern auch, wie sich etwas entwickeln wird.

Wir erkennen nun, dass das volle geistige Rüstzeug eines Christen sehr vielseitig ist. Da ist die Weisheit - sophia, die die tiefsten Wahrheiten Gottes erkennt; da ist die praktische Klugheit - phronesis, die in jeder Situation das Rechte zu tun weiss und da ist die kritische Einsicht - synesis, das Unterscheidungsvermögen, das jedes Geschehen und den Ablauf der Ereignisse richtig beurteilen kann. Der Christ ist nicht nur ein Mensch, dessen Gedanken sehr weit reichen und der losgelöst ist von der Welt. Er ist auch keiner, der nur in den irdischen Angelegenheiten tüchtig ist, er ist nicht nur in jeder Lebenslage geschickt, der Christ soll für alle Gebiete befähigt sein. Er vermag nicht nur Gott zu erkennen, er soll auch klug genug sein, diese Erkenntnis in die Tat umzusetzen, und er soll beurteilen können, auf welchem Wege er sein Ziel am besten erreicht. Der Christ ist der einzige Mensch, der im wahrsten Sinne des Wortes zugleich Denker und Tatmensch ist.