Auslegung-11: Geschichtsbücher des Alten Testaments

Auslegung der Bibel

 

Einstieg: Die alttestamentlichen Geschichtsbücher bestehen grösstenteils aus Erzählungen. Der Ausleger hat vier Aufgaben zu erfüllen, um das geschichtliche Material zu verstehen, und drei Dinge zu beachten, wenn er die Erzählungen auslegt. Die Erzählung ist die Hauptform der alttestamentlichen Literatur.

Einleitung

Die Geschichtsbücher Josua bis Ester berichten über den Zeitraum vom Einzug Israels in Kanaan bis etwa zweihundert bis vierhundert Jahre vor dem Ende des alttestamentlichen Zeitalters. Wir beginnen mit einem kurzen Überblick über den historischen Zeitraum, der in jedem Buch behandelt wird.

Josua – Das Buch fährt mit den Erzählungen aus dem Pentateuch fort, beschreibt die Eroberung von Kanaan und die Aufteilung des Landes.

Richter – Die Zeit der Richter war eine Periode von mehreren hundert Jahren, in der Israel häufig von Gott abfiel, von anderen Nationen unterdrückt und dann von Richtern befreit wurde.

Rut – In diesem Buch wird erzählt, wie zur Richterzeit eine Moabiterin zum Judentum konvertierte und Teil des Stammbaums Davids wurde.

1. und 2. Samuel – Diese Bücher beschreiben das Ende der Richterzeit und den Beginn des Königreichs Israel. Während sich 1. Samuel mit der Königsherrschaft Sauls beschäftigt, berichtet 2. Samuel von der Königsherrschaft Davids.

1. und 2. Könige – Sie fahren dort fort, wo 2. Samuel endet und erzählen von der Königsherrschaft Salomos. Diese Bücher berichten über die Teilung des Königreichs, der Entwicklung des geteilten Reichs bis zu der Zeit, in der das Südreich Juda alleine existierte. Das Buch 2. Könige schliesst mit der Zerstörung Judas und dem Beginn der babylonischen Gefangenschaft.

1. und 2. Chronik – Diese Bücher wiederholen die Geschichte Israels und Judas, allerdings mit einem anderen Schwerpunkt als in Samuel und der Könige. Das Buch 1. Chronik beginnt mit den Geschlechtsregistern, die bis zu Adam zurückreichen. Danach folgt die Geschichte des Volkes Gottes von der Zeit Sauls bis zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft. Das Buch 2. Chronik schliesst mit dem Erlass, das den Juden erlaubt, in ihr Land zurückzukehren.
Esra – Dieses Buch beschreibt die Rückkehr der ersten Gruppe von Juden aus der babylonischen Gefangenschaft, den Wiederaufbau des Tempels und von Esra eingeleiteten Reformen.

Nehemia – Nachdem das Volk aus Babylon zurückgekehrt war, baute es die Mauern Jerusalems wieder auf. Zudem berichtet Nehemia über die Reformen, die Esra durchführte und von der Erneuerung des Bundes.
Ester – Dieses Buch spielt in Persien um 480 v. Chr. und beschreibt, wie ein jüdisches Mädchen Königin wurde und so später die Juden vor der Vernichtung bewahren konnte.

Jedes der Buchpaare – 1. und 2. Samuel, 1. und 2. Könige sowie 1. und 2. Chronik – bildete ursprünglich ein Buch. Die hebräische Bibel enthält immer noch ein Buch Samuel, eines der Könige und eines der Chronik. Ausserdem werden in der hebräischen Bibel die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige als „frühere Propheten” zu den Prophetenbüchern gezählt. Die übrigen Bücher, die wir als „Geschichte” bezeichnen, finden sich unter den „Schriften” (Ketuwim) der hebräischen Bibel.

Die Geschichtsbücher enthalten zwei teilweise überschneidende Zeiträume. Der eine befindet sich bei den früheren Propheten, der mit der Eroberung Kanaans beginnt und mit der Wegführung Judas in die babylonische Gefangenschaft endet. Der andere, der sich in Chronik, Esra und Nehemia befindet, beginnt (nach dem Geschlechtsregister) mit dem vereinigten Königreich Israels unter David und Salomo und endet mit der Rückkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft. In den anderen beiden Büchern wird der Zeitraum der Geschichte nicht erweitert, sondern alle Ereignisse hängen miteinander zusammen und gehören in dieselbe Zeitspanne. In Rut geht es um Ereignisse, die in der Zeit der Richter stattfanden. In Ester fallen die Ereignisse in die Zeit, die in Esra und Nehemia beschrieben wird.

Merkmale der Geschichtsbücher

Wie sieht die Geschichte des Alten Testaments aus?

Erstens: Alttestamentliche Geschichte ist selektiv (d. h. ausgewählte Geschichte). Sie enthält nicht jede Einzelheit, sondern nur Informationen, die dem Zweck des Schreibers entsprechen. Obwohl die verschiedenen Bücher unterschiedliche Zwecke verfolgen, kann generell gesagt werden, dass sie von religiöser oder theologischer Geschichte geprägt wird. Es wird über Gott gelehrt, seine Absichten und seinen Plan. Daher werden Details, die in der politischen oder weltlichen Geschichte wichtig sein mögen, weggelassen. Hingegen Ereignisse, die für das Volk Gottes von grösserer Bedeutung sind, werden detailliert geschildert.

Ein Beispiel für diese Tendenz ist Omri, ein König des Nordreichs im neunten Jahrhundert v. Chr. Aus den Geschichtsquellen der angrenzenden Länder wissen wir, dass Omri ein mächtiger und wichtiger König war. Selbst ein Jahrhundert nach seinem Tod nannten die Assyrer Israel immer noch das „Haus Omri”. Der biblische Autor widmet seiner Regierungszeit jedoch nur wenige Verse (1 Kön 16,16-28). Warum? Daraus schliessen wir, dass er ein brutaler König war, der aus der Sicht des Schreibers nichts Sinnvolles zur Erfüllung der Ziele Gottes beitrug. Aus weltlicher Sicht war er wichtig, aber nicht aus der Sicht von 1. und 2. Könige. Weil der inspirierte Autor religiös fokussiert war, erhielt dieser gottlose König wenig Beachtung.

Wenn die biblische Geschichte selektiv ist, ist sie deswegen fehlerhaft? Ist sie zu sehr von ihrer eigenen Sichtweise geprägt oder gar mystisch, statt auf geschichtlichen Tatsachen gegründet? Ganz und gar nicht. Alles, was man der biblischen Geschichtsschreibung vorwerfen kann, das kann man auch jeder anderen Geschichtsschreibung vorwerfen, indem man behauptet, sie sei selektiv. Geschichtsschreibung ist immer selektiv, weil nicht jede Tatsache in eine historische Aufzeichnung aufgenommen werden kann. Sobald wir das Prinzip der „Auswahl” (Selektivität) bei der Geschichtsschreibung anerkennen, gewinnt auch die Absicht des Autors an Bedeutung. Seine Absicht bestimmt immer den Inhalt, der in die Geschichte aufgenommen wird. Die biblische Geschichtsschreibung unterscheidet sich von der säkularen (d. h. weltlichen) Geschichtsschreibung nur dadurch, dass hinter ihrer Selektivität (Auswahl) ein anderer Zweck steht.

Zweitens: Alttestamentliche Geschichtsschreibung ist zuverlässig. Da der Zweck der biblischen Geschichte mit dem Zweck moderner Geschichtsschreibung nicht immer übereinstimmt, können biblische Ereignisse auch nicht immer als historisch nachgewiesen werden. In der Regel dürfen wir nicht erwarten, dass die antike Geschichtsschreibung die biblischen Wunder bestätigt. Allerdings kann gesagt werden, dass sich biblische Geschichtsschreibung, die in vielen Punkten anhand bekannter Fakten überprüft wurden, immer wieder als genau erwies.

Drittens: Alttestamentliche Geschichte wurde gründlich aufgezeichnet. (A) Im Gegensatz zu den Annalen der zeitgenössischen Könige umliegender Länder, befasst sie sich mit den Ursachen und Folgen von Ereignissen. (B) Im Gegensatz zu den prahlerischen Berichten der Könige des Alten Orients, berichtet diese Geschichte offen über die Schwächen ihrer Hauptpersonen. (C) Sie ist reich an Details und lebensnah.

Auslegung der Geschichtsbücher

Die Ausleger der alttestamentlichen Geschichtsbücher haben vier Aufgaben zu erfüllen:

1. Ereignisse oder Erzählungen in einen geschichtlichen Zusammenhang stellen. Es gilt, die Geschichte Israels wiederzugeben, wie sie die Bibel überliefert. Dabei sind Fragen notwendig, wie: Wann hat sich ein Ereignis zugetragen? Was ging dem voraus und führte zu dem Ereignis? Was war die Ursache? Was waren die Ergebnisse oder Folgen des Ereignisses? Biblische Erzählungen müssen immer auf einer „geschichtlichen Ebene” verstanden werden. Jedes Ereignis hat seine Ursache und zieht Konsequenzen nach sich. In ihrem Zusammenhang gesehen, macht die biblische Geschichte Sinn.

2. Fragen, ob das Ereignis tatsächlich stattgefunden hat oder nicht. Diejenigen, die eine konservative Auffassung der Heiligen Schrift vertreten, sehen vielleicht keine Notwendigkeit für eine solche Frage, da sie die Bibel als vom Heiligen Geist inspirierte geschichtliche Aufzeichnung halten. Wir glauben, dass wenn die Bibel über ein Ereignis berichtet, dass es auch stattgefunden hat. Aus zwei Gründen lohnt es sich trotzdem, die historische Echtheit eines bestimmten Ereignisses genauer zu untersuchen. Erstens könnte es sein, dass einige die geschichtliche Tatsache bestreiten. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir mit überzeugenden Argumenten reagieren. Zweitens können schwerer verständliche Bibelstellen Fragen zu einem bestimmten Ereignis aufwerfen. Ein bestimmter Bericht mag widersprüchlich erscheinen oder anderen biblischen Stellen widersprechen. Ein scheinbarer Widerspruch erfordert weitere Untersuchungen. Ein Ansatz, der dazu beiträgt, ein bestimmtes Ereignis auf seine geschichtliche Tatsache zu prüfen, besteht darin, dieses Ereignis mit anerkannten Fakten in Beziehung zu setzen, die aus ausserbiblischen Quellen bekannt sind.

3. Den Vorfall in seinem eigenen historischen, sozialen und kulturellen Zusammenhang verstehen. Dazu gilt es so viel wie möglich zu erforschen, was genau, wie, wann, wo, warum geschehen ist, bezogen auf den Ort des Ereignisses, sowie auf die damalige und nicht auf unsere Zeit. Die Begründung eines bestimmten Ereignisses mag uns nicht logisch erscheinen, aber den Menschen in den historischen und kulturellen Umständen damals, war sie völlig einleuchtend.

Davids Kampf gegen Goliat, zum Beispiel (1. Samuel 17,2-51), mag in der heutigen Zeit nicht viel Sinn ergeben. Wir können uns nicht vorstellen, dass moderne Armeen vereinbaren, den Ausgang ihres Konfliktes vom Sieg eines Zweikampfes abhängig zu machen. Eine ähnliche Konfrontation wird jedoch in einer griechischen Mythe erzählt. Die Helden zweier Armeen kämpften gegeneinander. Der Sieg des Gewinners galt nicht nur ihm selbst, sondern auch seiner Armee und seinem Land. Die Mitstreiter des Verlierers wurden angehalten, ihre Waffen niederzulegen und sich zu ergeben. Goliat repräsentierte die Philister, die aus der Gegend Griechenlands in Palästina eindrangen.

Als Ausleger von Gottes Wort müssen wir vorsichtig sein. Wenn wir ein historisches Ereignis aus der Bibel betrachten, müssen wir zwischen dem, was wir wissen können, und dem, was wir nicht wissen können, unterscheiden. Wir müssen sorgfältig unterscheiden zwischen dem, was möglicherweise oder wahrscheinlich wahr sein kann, und dem, was sicher ist.

4. Die Suche nach der Bedeutung, dem eigentlichen Sinn des Geschriebenen. Den biblischen Geschichtsschreibern ging es nicht um sich selbst, sondern darum, Ereignisse zu vermitteln, die stattfanden, um aus ihnen Lehren zu ziehen. Unsere Aufgabe als Ausleger ist es zu fragen: „Was will uns der Schreiber in Bezug auf ein bestimmtes Ereignis lehren?“ „Weshalb führt er dieses Ereignis überhaupt auf?“

Als ein kurzes Beispiel, kommen wir auf die Geschichte von David und Goliat zurück. Wir gehen zunächst davon aus, dass es sich um ein historisches Ereignis handelt, d. h. dass es sich tatsächlich ereignet hat. Welche Fragen müssen wir beantworten, wenn wir diesen Text auslegen wollen?

1. Was ist vorgefallen? David, ein Hirtenjunge, der bereits von Samuel zum nächsten König Israels gesalbt worden war, aber keine Erfahrung im Krieg hatte, besiegte Goliat, ein Riese und ein Kriegsheld der Philister. Das Ergebnis war, dass (a) Israel einen Sieg über die Philister errang und (b) David vom Volk gepriesen wurde.

2. Was ist die historische Bedeutung dieser Geschichte? Davids Sieg über Goliat weckte Sauls Eifersucht. Der grösste Teil der folgenden Handlung in der Geschichte wird von dieser Eifersucht beeinflusst. Dieser grossartige Sieg und dieses Glaubenszeugnis bereiteten das Volk vor, David in den folgenden Jahren als König zu akzeptieren.

3. Was können wir daraus lernen? Was betont der Schreiber? Während wir dazu neigen, Davids Mut und Geschicklichkeit mit der Steinschleuder zu loben, betont der Schreiber Gottes Eingreifen. David obsiegte, weil er auf Gott vertraute und weil Gott mit ihm war! Gott steht im Mittelpunkt dieser Erzählung.

Die Bedeutung der historischen Erzählungen des Alten Testaments entdecken

Wie können wir schliesslich beim Auslegen die Bedeutung einer Erzählung herausarbeiten, die sich in den Geschichtsbüchern oder auch in den anderen Büchern des Alten Testaments finden?

1. Erkenne, um was für eine Erzählung es geht
Erzählungen sollten immer als solche interpretiert werden. Erzählungen oder geschichtliche Ereignisse sind die häufigste Literaturgattung im Alten Testament. Auch wenn es in der ganzen Bibel Erzählungen gibt, bilden die Geschichtsbücher den grössten Teil davon.

Da es sich bei einer Erzählung um ein geschichtliches Ereignis handelt, wollen wir es verstehen. Welches sind die wichtigsten Personen, die Hauptdarsteller und ihre Gegner? Was ist die Handlung, der Aufbau der Geschichte? Eine Geschichte hat einen Anfang, einen Hauptteil und ein Ende. Am Anfang werden Personen vorgestellt und ein Problem dargelegt. In der Mitte tauchen Komplikationen auf, die von der Hauptperson überwunden werden müssen. Am Ende ist das Problem gelöst.

Die Bedeutung oder der eigentliche Sinn einer Erzählung wird durch die Betonungen sichtbar. Manchmal weist ein Kommentar des Schreibers auf eine Betonung hin, bevor die Geschichte beginnt oder erst am Schluss als Zusammenfassung. Beim vorsichtigen Lesen erkennen wir normalerweise, worauf der Schreiber seine Leser hinweisen will.

Das Buch Rut, zum Beispiel, erzählt uns eine Liebesgeschichte – doch was ist ihre Bedeutung? Was macht die Geschichte wichtig genug, um in der Bibel zu stehen? Zuerst sagt sie, wie eine Moabiterin Vorfahrin des Königs David wird (und deshalb auch des Messias, in dessen Stammbaum sie sogar steht, siehe Matthäus 1,5). Das Buch offenbart auch die Beziehung der heidnischen Völker zu Israel und zeigt, dass nicht alle Heiden Gegner Israels waren. Mitunter heirateten Heiden Juden und nahmen ihren Glauben an. Zusätzlich entdecken wir beim vorsichtigen Lesen dieser Geschichte, wie Naomi, Ruts Schwiegermutter, in Moab alles verlor, ihr Zuhause, ihren Mann, ihren Lebensunterhalt und ihre Söhne, aber nach ihrer Rückkehr nach Israel alles (und sogar mehr) wiedergewann. Das Thema könnte lauten: „Was Gott nimmt (Rut 1,21), gibt er mit Zinsen zurück.“

2. Erkenne, was Erzählungen nicht sind
Erzählungen dürfen nicht mit falschen Annahmen angegangen werden.

Eine Erzählung ist keine Sammlung von Einzelheiten, von denen jede seine eigene Bedeutung hat. Ein Detail in einer Geschichte muss nicht wichtig sein. Es muss überhaupt nichts bedeuten. Der Herr muss nicht zwingend uns etwas sagen wollen, wenn die Schrift die Tatsache festhält, dass David fünf glatte Steine sammelte bevor er gegen Goliat kämpfte.

Eine alttestamentliche Geschichte ist kein Gesetz und stellt nicht immer einen Präzedenzfall dar, dem Christen folgen müssen. Die Tatsache, dass Gideon einen Wollknäuel ausgelegte (Ri 6,36-40) bedeutet nicht, dass Christen heute etwas Ähnliches tun müssen, um Gottes Willen zu erfahren. Die Bibel gibt uns dafür auch keinen Auftrag.

Eine alttestamentliche Geschichte liefert nicht immer eine gute Moral oder eine ethische Richtlinie. Die Erzählungen haben andere Absichten, als moralische Prinzipien zu veranschaulichen. Gewöhnlich beurteilen sie auch nicht die Handlungen der Personen in den Ereignissen. Der Leser soll fähig werden, selbst zu urteilen, und die Lehren des Gesetzes anzuwenden. Er soll feststellen, ob die Handlung moralisch richtig war oder nicht. Die Absicht dieser Erzählungen ist, die Geschichte Israels weiterzugeben und dabei zu zeigen, wie Gott im Leben der einzelnen gewirkt hat, um sein Ziel zu erreichen. Konsequenterweise können wir nicht davon ausgehen, dass jede Handlung – auch die der Helden – von Gott gutgeheissen wird, nur weil die Bibel sie nicht verflucht.

Eine biblische Erzählung ist keine Geschichte mit einer „tieferen Bedeutung“. Von alters her sind Ausleger der Meinung, dass die Bibel im Allgemeinen und einzelne Geschichten im Besonderen, eine tiefere geistliche Bedeutung haben als jene, die auf der Hand liegt. Diese Art, die Bibel zu lesen, birgt zwei Probleme in sich: (1) Das Suchen nach der tieferen „geistlichen“ Bedeutung einer Geschichte hindert den Leser daran, die offensichtliche Bedeutung, den eigentlichen Sinn einer Erzählung zu verstehen. (2) Diejenigen, die nach „tieferen“ Bedeutungen suchen, finden in der Regel das, was sie finden wollen. Diese Vorgehensweise bringt die Menschen dazu, jedem Vers eine willkürliche Bedeutung zu geben.

Eine biblische Geschichte ist auch keine Allegorie (sinnbildlich zu verstehen). Ausleger, die mit der Lektion einer alttestamentlichen Geschichte nicht zufrieden sind, drehen sie gerne in eine Allegorie. Wenn die Bibel eine Geschichte nicht als Allegorie verwendet, haben auch wir keine Berechtigung dazu (siehe Gal 4,21-31).

3. Unterscheide zwischen „Beweis“ und „Veranschaulichung“
Während einzelne Ereignisse in der Bibel wichtige Wahrheiten bestätigen, können andere diese nur veranschaulichen. Davids Bereitschaft gegen Goliat zu kämpfen, kann veranschaulichen, dass es gut ist, wenn junge Menschen vorbereitet sind. Es beweist aber nichts anderes, als dass David fähig war, gegen einen Riesen zu kämpfen und mit Gottes Hilfe gewann. Generell gesagt dürfen Erzählungen nicht dazu benutzt werden, um etwas beweisen zu wollen, ausgenommen ein neutestamentlicher Schreiber tut das.

Wenn jemand über eine biblische Geschichte predigt, muss er Aussagen wie folgende vermeiden: „Davids Beispiel beweist, dass du die ‚Riesen’ deines Lebens besiegen kannst.“ Er kann vielleicht sagen: „Davids Erfahrung zeigt (oder illustriert), dass du mit Gottes Hilfe die ‚Riesen’ besiegen kannst, die sich gegen Gottes Volk auflehnen.“ Was von Christen verlangt wird, lehrt uns das Neue Testament, während alttestamentliche Ereignisse unsere Verantwortung und unsere Vorrechte deutlich machen können. Niemals stellt das Alte Testament unabhängig vom Neuen Testament für uns auf.

Ein Prediger erwähnte einmal, dass Gott gesagt habe, das verheissene Land bestehe aus „Hügeln und Tälern“ (Dtn 8,7). „In gleicher Weise“, fuhr er fort, „besteht unser Leben aus Hügeln und Tälern – Höhepunkten und Tiefpunkten, guten und schlechten Zeiten.“ Christen erfahren tatsächlich Höhen und Tiefen in ihrem Leben, trotzdem beweist die Stelle in Deuteronomium 8,7 diese Tatsache nicht. Es beweist gar nichts. Es beschreibt lediglich, wie das Land beschaffen ist, das die Israeliten erben sollen. Es ist zweifelhaft, dass uns der Herr mit dieser Beschreibung eine geistliche Wahrheit übermitteln wollte, die wir aus dieser Stelle herleiten könnten, ausser der Tatsache, dass das verheissene Land aus „Hügeln und Tälern“ bestand.

Eine andere Stelle in Josua lehrt, weder zur Rechten noch zur Linken abzuweichen (Jos 1,7). Prediger benützen diese Stellen gelegentlich, um klar zu machen, dass wir bei der Auslegung der Bibel weder zur Rechten („ultrakonservativ“) noch zur Linken („liberal“) abweichen sollten. Zweifellos bringen sie es auf den Punkt: Christen müssen die Extreme auf beiden Seiten vermeiden, d. h. den Legalismus und den Liberalismus. Die Stelle in Josua mag diese Tatsache veranschaulichen, nicht aber beweisen.

Lasst uns zum Schluss das Ereignis von Noah und seiner Familie mit der Arche erwähnen (Gen 7,23; 1 Petr 3,20). Es gibt Prediger, die mit dieser Geschichte Lehren (Dogmen) über die Gemeinde „beweisen“ wollen. Sie sagen: „So wie es nur eine Arche gab und nur diejenigen gerettet wurden, die in dieser Arche waren, gibt es auch nur eine Gemeinde und es werden nur die gerettet, die in dieser Gemeinde sind.“ Es stimmt, Jesus hat nur eine Gemeinde gegründet und die Geretteten sind Glieder dieser (überörtlichen) Gemeinde. Das Ereignis von der Arche beweist aber diese Sache nicht! Diese Behauptung ist nur deshalb wahr, weil sie im Neuen Testament gelehrt wird und nicht, weil es nur eine Arche gab. Die Arche kann diese Tatsache veranschaulichen, nicht aber beweisen.

Schlussfolgerung

Welchen Nutzen haben die historischen Erzählungen des Alten Testaments für Christen heute?

Erstens liefern sie den historischen Hintergrund für die Zeit des Neuen Testaments. Weil unsere Erlösung von einem Erlöser abhängt, der als Jude geboren wurde, und weil wir selbst geistliche Israeliten sind, ist die Geschichte Israels auch unsere Geschichte.

Zweitens wäre es schwierig oder unmöglich, die Ereignisse und Lehren des Neuen Testaments zu verstehen, ohne die Geschichte und die Praktiken zu studieren, die im Alten Testament aufgezeichnet sind.

Drittens: Wo biblische Autoren und Redner alttestamentliche Ereignisse und Persönlichkeiten benutzten, um ihre Lehren zu beweisen oder zu veranschaulichen, können wir diese Ereignisse und Persönlichkeiten auf dieselbe Weise verwenden. Alttestamentliche Begebenheiten können, wenn sie richtig eingesetzt werden, den Menschen helfen, die Lehren des Neuen Testaments zu verstehen. Prediger und Lehrer müssen jedoch bedenken, dass die Wahrheiten des Neuen Testaments nur aus dem Neuen Testament stammen. Ein alttestamentlicher Abschnitt kann eine neutestamentliche Wahrheit veranschaulichen, aber nicht beweisen.

Wir müssen uns bewusst sein, dass Allegorien und Analogien in der Anwendung gefährlich sein können. Sie helfen uns nicht, eine historische Passage in ihrem eigenen Kontext zu verstehen. Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir alttestamentliche Erzählungen auf heutige Sachverhalte beziehen. Wir dürfen uns nicht schuldig machen, die Heilige Schrift zu verdrehen (2. Petrus 3,16), sondern müssen die Bedeutung annehmen, die Gott ihnen zugedacht hat.