Hebräer-02: Die Erniedrigung Christi

Christus ist besser als der alte Bund

 

 

 I.   „Darum“ (Vers 1a)

Dieses eine Wort sagt so viel aus, um was es im gesamten Zusammenhang geht. (Im Griechischen sind es zwei Wörter: διά τοῦτο = das alles, oder deswegen, aus diesen Gründen.) Es verbindet alles vorher Gesagte mit einem Aufruf.

Die Verse 1-4 werden oft als Einschub betrachtet, dabei sind sie mehr eine Schlussfolgerung zu dem Gesagten in Kapitel 1. Darum sollen wir auf das Gehörte achten, weil Jesus Gottes Sohn ist, weil Jesus angebetet werden soll, weil Jesus der Schöpfer ist, weil Jesus über allem regiert.

Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Empfänger des Hebräerbriefs eine bewusste Entscheidung getroffen hatten, dem Glauben an Christus den Rücken zu zukehren. Unser Text enthüllt vielmehr, dass sie immer mehr vom Weg abzukommen drohten, ohne es richtig wahrzunehmen. Wenn sie nicht aufwachen, dann werden sie wie ein Boot ohne Anker von den Wellen weggetrieben. Es gibt viele Wege vom richtigen Glaubensweg abzukommen. Bsp. Ich habe es immer wieder erlebt, dass Menschen die Gemeinde verliessen und den Glauben über Bord warfen, weil sie unzufrieden und undankbar waren, oder weil sie mit Geschwistern in Streit gerieten usw.

Doch die Meisten wurden untreu, weil sie im Glauben nachlässig wurden und langsam einschliefen. Wir Menschen neigen dazu, alles was uns zur Gewohnheit wird als weniger interessant und wichtig zu erachten. Sei es in der Ehe oder in der Familie, oder ganz allgemein in unseren Beziehungen zu allen Mitmenschen. Wir Menschen neigen dazu unsere „erste Liebe“ zu verlassen (Offb 2,4). Doch die menschlichen Beziehungen müssen wie der Glaube ständig gepflegt werden. Das Leben verändert sich und wir sind gezwungen uns immer wieder auf die neuen Umstände und Situationen einzulassen. Alles erfordert Pflege und Hingabe wie ein Garten. Nur das Unkraut wächst von selbst. Wer das nicht verstanden hat, der wird sorglos und verliert leicht, was er oft mit viel Einsatz erarbeitet hat. Wer im Glauben nicht wächst und seine Beziehung zum Herrn und zu den Glaubensgeschwistern nicht pflegt, der spielt mit seinem ewigen Leben.

 II.   „Auf das Gehörte achten“ (Vers 1b)

Was ist denn das Gehörte, auf das auch wir achten sollen? Das ganze Evangelium von Jesus Christus ist hier gemeint. Was enthält denn das Evangelium? Es enthält Tatsachen an die wir glauben (1Kor 15,1-4). Es enthält Verheissungen auf die wir hoffen (Röm 8,24; Tit 1,2). Es enthält Gebote denen wir gehorchen wollen (Mt 28,19-20; Mk 16,15-16; 2Tim 2,2). Es enthält Warnungen auf die wir hören wollen (2Thess 1,7-9; Mt 25,31.46; vergleiche Hebr 10,26-29; 12,28-29).

Wir werden aufgerufen auf das Gehörte „erst recht“ oder besonders gut zu achten (περισσοτέρως). Sind denn die Anforderungen des Neuen Testaments gegenüber den Anforderungen des Alten Testaments gestiegen? Diese Auffassung widerstrebt unserem Denken. Viele sind der Meinung, dass Gott im Neuen Testament gnädiger ist als im Alten. Denn für viele Sünden gab es im AT nur die Todesstrafe. Bsp. Ein Mann, der am Sabbat Holz sammelte (Num15,32-26). Bsp. Ussa berührte die Bundeslade Gottes (2Sam 6,3-7). Trotzdem ist dieses Denken falsch, belehrt uns der Heilige Geist! In Hebräer 2,1 wird deutlich gesagt, dass wir uns noch viel entschiedener als bisher an die Botschaft des Evangeliums halten sollen. Das heisst, entschiedener als es unter dem Gesetz Mose der Fall war! Denn das Gesetz wurde durch Engel übermittelt, das Evangelium aber durch den Sohn (V. 2). Der Sohn steht ja über den Engeln. Was der Sohn Gottes sagt, ist also von viel grösserer Bedeutung, als das was die Engel sagen.

Darum sollen wir uns warnen lassen und auf das Evangelium Christi hören, indem wir gut auf das Gehörte achten (προσέχω). Wenn die Menschen unter dem Alten Bund ihre gerechten Strafen empfingen, „wie werden dann wir entrinnen, wenn wir ein so grosses Heil missachten?“ (V. 3). Bei Missachtung des Evangeliums erwartet uns eine viel grössere Strafe; die Strafe des ewigen Todes. Wenn der allmächtige Gott etwas gebietet, dann will er auch, dass wir Menschen uns daran halten, egal was andere sagen. Selbst wenn wir es noch so gut meinen wie Ussa und uns gegen Gottes Willen vergehen, dann gibt es kein Entrinnen. Gott verlangt Gehorsam und nicht falsche Opfer! (1Sam 15,22)

Wer Gottes Heil missachtet (ἀμελέω), indem er kontinuierlich seinen eigenen Weg geht, der kommt so langsam vom geraden Weg ab. Für den bleibt nur noch das Gericht Gottes übrig. Durch Jesus Christus haben wir viel grössere Segnungen empfangen, als die Gläubigen unter dem Alten Bund. Denn die Engel verkündeten den Alten Bund. Jesus verkündigte uns den Neuen Bund, der viel besser ist. Es ist also wie mit den Talenten im Gleichnis (Mt 25,14-30). Wem viel anvertraut wurde, von dem wird auch mehr erwartet, erklärt Jesus (Lk 12,47-48; Mt 11,20-24).

Die Botschaft des Evangeliums darf nicht durch Gnade überbetont werden, sonst neigen wir nachlässig zu werden und für alles eine Entschuldigung zu finden. Die Botschaft des Evangeliums beinhaltet auch die gerechte Strenge Gottes. Beides, Gnade und Strenge müssen ausgewogen gepredigt und richtig verstanden werden. Die Gnade ist keine Rechtfertigung für die Gleichgültigkeit. Umgekehrt darf in der Strenge Gottes nicht bloss Strafe und Gericht gesehen werden, sondern auch die Erziehung zum Guten. Gott kennt unsere Herzen und kann sehr wohl unterscheiden, ob er uns züchtigen muss, oder ob er uns seine Gnade schenken soll. Gnade haben wir dann zu gut, wenn wir alles gegeben haben und trotzdem zu Fall gekommen sind. Wenn wir aber fallen, weil wir nachlässig geworden sind, dann missachten wird das Heil des Evangeliums.

 

 III. „Nicht am Ziel vorbeitreiben“ (Vers 1c)

Wie können wir am Ziel vorbeitreiben? Der Schreiber des Hebräerbriefs erwähnt sieben Dinge:

1.  Indem wir das grosse Heil missachten und nachlässig werden (Hebr 2,3).
 

2.  Indem wir unsere Herzen verhärten und Gottes Botschaft nicht annehmen (Hebr 3,7-8).

3.  Indem wir uns nicht bemühen in die himmlische Ruhe einzugehen (Hebr 4,11).
 

4.  Indem wir den Glauben vernachlässigen und unmündig bleiben (Hebr 6,1).
 

5.  Indem wir vorsätzlich sündigen und z. B. die Versammlungen nicht besuchen (Hebr 10,25).
 

6.  Indem wir nicht dem Frieden nachjagen mit allen und der Heiligung (Hebr 12,12-14).
 

7.  Indem wir undankbar sind und dem Herrn nicht dienen (Hebr 12,28).

Der Kommentator William Barclay sagt, dass prosecho (προσέχω) und pararrueo (παραῤῥυέω) zwei Schlüsselworte des Satzes sind: „Prosechein kann auch heissen ein Schiff verankern; und pararrein kann bedeuten, dass ein Schiff fahrlässig an einem Hafen vorbeitreibt, weil der Seemann vergass, Wind, Strömungen und Gezeiten zu berücksichtigen.“ Einem ähnlichen Wort für „vorbeitreiben“ begegnen wir im Hebräischen, wo vom Fuss anstossen die Rede ist (Spr 3,21-23). Unser Vers 1 (Kap. 2) kann also folgendermassen übersetzt werden: „Darum wollen wir unser Leben desto mehr in allem verankern, was uns gelehrt wurde, damit unser Lebensschiff nicht am Hafen vorbeitreibt und zugrundegeht.“ Das erinnert mich an die kommende Stelle in Hebräer 6,19, wo es heisst: „Diese [Hoffnung] haben wir als einen sicheren und festen Anker der Seele, der hineinreicht ins Innere, bis hinter den Vorhang ...“ (das heisst den Himmel).

 

 IV.  Schlussfolgerung

Darum, lasst uns auf das Gehörte achten und nicht am Ziel vorbeitreiben! Lasst uns am Anker der Hoffnung festhalten bis zum ewigen Leben! Denn treu ist Gott, der uns Seine Verheissungen gegeben hat (Hebr 10,23).

Lasst uns einander anspornen zur Liebe und zu guten Taten (Hebr 10,24), damit jeder es schaffen wird und wir uns einmal gemeinsam freuen dürfen im Himmel bei Christus zu sein!

 

 V.   Das Heil in Jesus Christus (Verse 2-4)

Wie werden wir der Strafe Gottes entrinnen? (V. 2)
Das ist eine rhetorische Frage, in der die Antwort schon enthalten ist. Wir werden nicht entrinnen, wenn wir das Heil in Jesus Christus missachten!

Wie missachten wir das Heil? (V. 3a)
Wenn wir nachlässig werden in unseren Bemühungen das Gute zu tun. Wer sich unermüdlich bemüht seine Berufung und Erwählung in Christus zu festigen, dem wird grossmütig Zugang zum Reich Gottes gewährt: 2. Petrus 1,5-11.

Die Übermittlung des Heils (V. 3b).
Die Juden mögen vielleicht gesagt haben: „Unser Gesetz wurde uns durch Engel übermittelt, ihr aber habt ein Evangelium, das von Menschen gepredigt wurde.“ Doch Jesus war nicht bloss ein Mensch, sondern Gottes Sohn, wie wir in Kapitel 1 gelesen haben. Mit Jesus kam Gott auf diese Welt. Das Wort wurde Fleisch im Sohn Jesus Christus (Joh 1,1-5.9-14). Die Worte, die Jesus redete, sind Geist und Leben (Joh 6,63). Jesus redete nichts von sich aus, sondern alles im Auftrag Gottes (Joh 12,49-50).

Jesus lehrte seine Jünger das Evangelium des Heils (Joh 15,15). Die Verkündigung des Heils nahm also seinen Anfang durch den Herrn Jesus. Nachdem Jesus zwölf Apostel erwählte, lehrte er sie das Evangelium vom Heil. Vor seiner Kreuzigung versprach er ihnen ein besonderes Mass des Heiligen Geistes (Joh 14,26; 16,13). Nachdem Jesus von den Toten auferstanden war und in den Himmel entrückt wurde, empfingen die zwölf Apostel den versprochenen heiligen Geist, der sie an alles erinnerte, was Jesus sie gelehrt hatte (Apg 2,4).

Die Apostel, die das Evangelium vom Heil aus Jesu Mund hörten, haben es verlässlich weitergegeben. Sie wurden von Jesus beauftragt, die Menschen alles zu lehren, was Jesus befohlen hat (Mt. 28,20). Sie verkündigten alles, was sie von Jesus gesehen und gehört hatten (1Joh 1,1), den ganzen Ratschluss Gottes (Apg 20,20.27).

Das Evangelium des Heils wurde durch Zeichen und Wunder von Gott bestätigt. Jesus tat viele Zeichen und Wunder (Joh 20,30-31). Die Apostel wurden durch Zeichen und Wunder beglaubigt (Mk 16,17-20). Zeichen und Wunder machten einen Apostel aus (2Kor 12,12). In der Bibel war es schon immer so, dass eine neue Botschaft von Gott durch Wunder bestätigt wurde. Siehe Mose (Ex 4,1-9.29.30) und Elischa (2Kön 5). Wir sprechen hier von wirklichen Wundern, die übernatürlich waren in ihrer Art! (Mk 2,10-12). Es kann nicht überbetont werden, dass neue Botschaften von Gott und übernatürliche Wunder Hand in Hand gehen. Mit übernatürlichen Zeichen und Wundern bestätigte der Verkündiger seinen Zuhörern, dass seine Botschaft von Gott kam. Wie das Manna aus dem Himmel aufhörte als sie ins Land Kanaan kamen, so hörten die übernatürlichen Zeichen und Wunder auf, als die Gemeinde das Kindesalter verlassen hatte.

Der Heilige Geist gab diese machtvollen Taten und Gaben nach Seinem Willen. Wer das Evangelium des Heils erfahren möchte, der halte sich an den Glauben, der ein für allemal überliefert und uns anvertraut wurde durch die Bibel (Jud 3). Wir werden aufgerufen nach dem Massstab (Kanon) der heiligen Schriften zu wandeln (Gal 6,16). Wir brauchen heute keine weiteren Wunder mehr, weil wir alles besitzen, was wir zum ewigen Leben brauchen (2Petr 1,3). Wer Gottes Geist haben will, der soll auf die Apostel und Propheten hören, die Gott damals gesandt hat (1Joh 4,6; Lk 10,16; 16,31). Wenn wir in der Bibel von Zeichen und Wundern lesen, dann stellen wir fest, dass sie meistens überraschend geschahen (Apg. 2). Nirgends lesen wir von sogenannten „Geisterstunden“, in denen Gläubige in Scharen zusammenkamen, um anzubeten und von den Aposteln Heilungen zu empfangen. Der Heilige Geist kann nicht für bestimmte Gottesdienststunden gemietet und gezwungen werden, machtvolle Taten zu vollbringen. Der Heilige Geist wirkt ganz nach Seinem Willen, im Einklang mit Gottes Plan und nicht nach den Wunschvorstellungen der Menschen.

 

 VI.  Die Gottheit Jesu wurde Fleisch, um uns zur Herrlichkeit zu führen (Verse 5-10)

Überblick: Im ersten Kapitel wurde von der Herrlichkeit Christi gesprochen. Dazu wurde aufgezeigt, dass Jesus grösser ist als die Engel und Propheten. Diese Gedanken wurden mit einem Aufruf und einer Ermahnung unterbrochen (2,1-4). In den folgenden Versen kehrt der Schreiber zur Erhabenheit Christi über die Engel zurück. Es geht nun um die Frage: Wem hat Gott die künftige Welt unterstellt? Nicht den Engeln. Jesus ist der Herrscher der künftigen Welt.

Was ist mit der künftigen Welt gemeint? (V. 5)
Es ist die Zeit, in der wir jetzt leben; das Zeitalter des Messias (siehe auch 6,5). Dieses Zeitalter begann mit der Krönung Christi im Himmel zum ewigen König (Apg 2,33-35). Der Anfang der Herrschaft Christi wurde sichtbar auf Erden, als der Heilige Geist begann auf besondere Art und Weise für das Reich Gottes zu wirken (Apg 2). Jesus ist der Herrscher des christlichen Zeitalters (Mt 28,18), ob wir das glauben wollen oder nicht. Das christliche Zeitalter dauert von der Auferstehung Christi bis zu seiner Wiederkunft. Es steht im Kontrast zum mosaischen Zeitalter (von Mose bis Christi Tod). Aber auch die Apostel wurden zum Mitherrschen über dieses Zeitalter bestimmt bis zur Wiederkunft Christi (Mt 19,28).

Mit der künftigen Welt kann nicht die Zeit nach der Wiederkunft Christi gemeint sein. Das entspräche nicht der Lehre des Hebräerbriefs. Der Hebräerschreiber will aufzeigen, dass Jesus jetzt alle Herrschaft besitzt und nicht in einer zukünftigen tausendjährigen Regierung.

Die Satzstellung „von der wir reden“ weist darauf hin, dass der Hebräerbrief vermutlich zuerst gepredigt und später niedergeschrieben wurde.

Von wem ist in Vers 6 die Rede?
Der Schreiber bezieht sich auf einen Bibeltext im AT (Ps 8,5-7). Er sagt mit andern Worten: „Es gibt eine Schriftstelle im Alten Testament.“ Weil Gott der Autor dieser Schriftstelle ist braucht der Name des menschlichen Schreibers nicht bekannt gegeben zu werden. Eine ähnliche Ausdrucksweise finden wir auch im Hebräer 4,4. Psalm 8,4 bezieht sich eindeutig auf einen sterblichen Menschen. Diese Aussage wurde von den Juden niemals messianisch betrachtet. Erst der Hebräerschreiber gibt dieser Stelle eine doppelte Bedeutung. Wie im Psalm ist hier vom „Mensch“ ganz allgemein die Rede, der in Gottes Schöpfung eine besondere Stellung einnimmt. Dann ist vom „Menschen Sohn“ die Rede, der sich im Hebräer auf Jesus bezieht. Bisher war vom Gottessohn die Rede und nun vom Menschensohn. Diese Bezeichnung bestätigt Jesu Fleischwerdung. Jesus wird im AT Sohn des Menschen genannt (Dan 7,13). Über 80 Mal finden wir im Neuen Testament die Bezeichnung Menschensohn oder Sohn des Menschen (Bsp. Mt 9,6).

Die kurze Zeit, die Jesus auf Erden lebte, wurde er niedriger gestellt als die Engel (V. 7).
Jesus lebte wie ein Mensch in einem verletzbaren und vergänglichen Körper. Er war den physischen Bedürfnissen ausgesetzt wie ein sterblicher Mensch. Damit nahm er Knechtsgestalt an und erniedrigte sich selbst. Jesus wurde gehorsam bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,6-8). Diesen Weg der Erniedrigung machte Jesus zum Erlöser der Menschheit.

Deshalb wurde Jesus von Gott über alles erhöht (V. 8).
Jesus wurde mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt (Phil 2,9-11; 2Petr 1,17). Gott krönt IHN dadurch, dass er IHM alle Macht gab im Himmel und auf Erden (Mt 28,18; Joh 17,2; 1Kor 15,27). Jetzt regiert Jesus bereits zur Rechten Gottes als König der Könige und Herr der Herren (1Tim 6,15; Hebr 8,1; Offb 17,14). Diese unübertreffliche Macht Jesu ist zurzeit für uns noch nicht in vollem Umfang sichtbar. Doch bei seiner Wiederkunft, wenn ihn jedes Auge sehen wird (Offb 1,7), dann wird die Macht Jesu Christi allen Menschen in vollem Umfang sichtbar. Auch unser Leben ist zurzeit noch „mit Christus verborgen“ (Kol 3,3-4).

Der Punkt ist erreicht, indem endlich der Name „Jesus“ erwähnt wird (V. 9).
Damit macht der Schreiber unmissverständlich klar, von wem er die ganze Zeit sprach. Durch seinen Kreuzestod erniedrigte sich Jesus für kurze Zeit unter die Engel. Dieser Kreuzestod war kein Unfall, sondern Gottes Heilsplan für uns Menschen.

Durch den Kreuzestod Jesu werden nun viele gläubige Söhne und Töchter zur Herrlichkeit geführt (V. 10).
Das war das Ziel Gottes vor Grundlegung der Welt (Eph 1,3; 2Kor 5,19). Vielleicht fragt sich jemand: „Warum konnte Gott keinen andern Heilsplan ausarbeiten?“ „Was ist dieser Gott für ein Vater, der seinen Sohn für eine böse Welt sterben lässt?“ Es liegt bestimmt nicht an uns kurzsichtigen Menschen darüber zu urteilen, was der allmächtige Gott in seiner Weisheit tun sollte oder nicht. Wir wissen ja nicht einmal was morgen sein wird (Jak 4,14). Wenn es einen andern Heilsplan gegeben hätte, dann wäre Gott in seiner überwältigenden Weisheit im Stande gewesen, diesen zu realisieren.

Dieser Weg widerspricht keineswegs der Ehre und Würde Gottes und seines Sohnes. Jesus wählte diesen Weg völlig freiwillig zu unserer Erlösung (Lk 24,26). Für Juden war der gekreuzigte Christus schon immer ein Ärgernis (1Kor 1,23). Für ungläubige Heiden war und bleibt Christus eine Torheit (1Kor 1,23).

Der Tod Jesu am Kreuz war der beste Weg, um Gottes Liebe uns Menschen zu demonstrieren (Joh 3,16). Jesus ist der Urheber (ἀρχηγός) unseres Heils geworden (Apg 3,15; 5,31; Hebr 12,2). Urheber = Führer, Herrscher, Fürst, Anfänger. Petrus macht den Juden zum Vorwurf, dass sie einen Mörder gewählt haben und den “Fürsten des Lebens“ getötet haben. Weil Jesus das Ziel erreicht hat, ist er nicht nur Urheber, sondern auch Vollender des Heils.

Schlussfolgerung: Gottes Ziel ist es, viele Söhne und Töchter zur himmlischen Herrlichkeit zu führen. Deshalb nahm Jesus die Erniedrigungen auf sich. Jesus ist unser Anfänger und Vollender des Heils.

 

 VII. Jesus ist unser Bruder (Verse 11-18)

Jesus musste uns Menschen gleich werden (d. h. Mensch werden), damit er uns heiligen konnte (2,17). Es ist hier zweifellos von Jesus die Rede, der durch einen Reinigungsprozess alle heiligt, die sich heiligen lassen (Apg 20,32). Wir werden durch sein Blut geheiligt (Hebr 10,29). Obschon es auch vorkam, dass Jesus den Vater bat, z. B. die Apostel zu heiligen in der Wahrheit (Joh 17,17). Im AT heiligte Gott sein auserwähltes Volk (Ex 31,13; Lev 20,8; 22,32; Ez 37,28).

Hagiazo (ἁγιάζω) wird im NT auf zwei Arten gebraucht: rein machen, reinigen, heilig machen (Heb. 10,10) und weihen, widmen, absondern (1Petr 1,16). Durch das Blut Christi sind wir nun Geheiligte, Gott Geweihte, Abgesonderte, um Gott zu dienen.

Wir stammen alle vom selben Gott (Vater) ab (V. 11).
Wir sind wie Christus geworden und folgen seinem Beispiel. Deshalb schämt sich Christus auch nicht uns Brüder und Schwester zu nennen. Jesus sagt, wer den Willen des Vaters tut, ist ihm Bruder und Schwester und Mutter geworden (Mt 12,50). Um diese Einheit mit uns zu bilden, musste er uns in allem gleich werden (Hebr 2,17; Röm 8,29). Jesus, der vollkommen und heilig als Mensch auf Erden lebte, könnte sich leicht für uns schämen vor Gott und den Engeln im Himmel, doch er tut das nicht. Jesus liebt uns ohne Vorbehalte als Brüder und Schwester im Herrn. Wer seinen Bruder liebt, der schämt sich nicht für ihn, selbst wenn er behindert ist oder sonst Probleme hat (1Kor 15,8). Jesus bekennt sich zu uns als Bruder, indem er allezeit bei Gott für uns eintritt (Hebr 9,24; Röm 8,34). Deshalb sollen wir uns auch nicht schämen unseren Bruder Jesus vor den Menschen zu bekennen (Röm 1,16; 2Tim 1,8.12.16; Mk 8,38). Wir gehören zu Christus und bilden eine Familie, einen Leib mit IHM. Wer Glied der Gemeinde ist, der ist auch Glied des Leibes Christi (Eph 1,23). Wir Gläubigen repräsentieren Christus in dieser Welt. Wer sich gegen einen Gläubigen anlegt, der legt sich mit Christus an (Apg 9,4). Wie Mann und Frau durch die heilige Ehe zusammen einen Leib bilden, so ist es mit Christus und der Gemeinde (Eph 5,22-30).

Das Zitat aus Psalm 22,23 soll die Nähe Jesu zu seiner Gemeinde illustrieren (V. 12).
Alle Christen und alle hebräischen Christen damals verstanden, dass der Psalm 22 messianisch ist. Schliesslich zitierte ihn Jesus kurz vor seinem Tod (Ps 22,2; Mt 27,46; Mk 15,34). Auch andere Verse aus Psalm 22 deuten ohne Zweifel auf Jesus (V. 8.9.15.16.19). Besonders die Verse 13-18 sprechen mehr von Jesus als von David. Andere Verse wiederum sollten nur auf David bezogen werden (Ps 22,7.11).

Der Sprecher in Psalm 22 war Christus, der im Geist durch David sprach (1Petr 1,11). Jesus will den Namen Gottes seinen Brüdern und Schwestern verkünden. Er steht zu seinen Brüdern und Schwestern im Geist, vor dem ganzen Himmelsheer und vor der ganzen Menschheit. Die Frage stellt sich: Wann sang Jesus mitten in der Gemeinde? Wir wissen, dass Jesus den Synagogengottesdienst aufsuchte, wo gesungen wurde (Lk 4,16). Wir wissen auch, dass Jesus nach dem letzten Passamahl mit seinen Jüngern Loblieder sang, bevor er mit ihnen in den Garten Getsemani ging (Mt 26,30). Doch das kann damit wohl nicht gemeint sein, sondern die Rede ist, dass Jesus kontinuierlich mit seinen Brüdern und Schwestern singen wird. Jesus singt mit uns Gläubigen in der Gemeinde, wenn wir anbeten, weil wir mit ihm einen Leib bilden und er mitten unter uns ist (Mt 18,20; 28,20). In gleicherweise hat er mit uns Gemeinschaft, wenn wir das Herrnmahl zu uns nehmen und uns seiner Erlösungstat Gedenken (Mt 26,29; Apg 20,28).

Dann wird (in V. 13) eine andere Stelle aus der Septuaginta (LXX) zitiert, die aus Jesaja 8,17b und 2. Samuel 22,3 stammt (siehe auch Ps 18,3).
Offenbar wurde die Aussage im Jesaja 8,17-18 oft auf Christus angewandt, als „Stein des Anstosses“ (Jes 8,14; 1Petr 2,8; 1Kor 1,18.23). Es geht hier ein weiteres Mal um die Betonung der Fleischwerdung Christi. Jesus lebte als Mensch im Vertrauen auf den Vater, als er auf Erden wandelte (Ps 16,8-11; Apg 2,25-28). Dieses Vertrauen demonstrierte er am Kreuz, als er sagte: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46). Seine Gegner bestätigten dies mit den Worten (Mt 27,43): „Er hat auf Gott vertraut; der soll ihn jetzt retten, wenn er will ...“

Auch wir wollen Gott dem Vater und dem Sohn ganz vertrauen, denn unser grosser Gott hat all unser Vertrauen verdient! Auch das nächste Zitat aus Jesaja 8,18 scheint eine doppelte Prophezeiung zu sein. Sicher bezog sich diese Aussage zuerst einmal auf die Kinder Israels im AT. Doch jeder wahre Prophet Gottes wies mit seinen Aussagen gleichzeitig auf den kommenden Messias hin. Jesus wird hier mit einem andern Bild als Verantwortlicher dargestellt, dem viele Kinder geschenkt wurden. Deshalb tritt Jesus verantwortungsvoll für alle Gläubigen ein, die ihm der Vater gegeben hat (Joh 17,6-9.20-26). Seit seinem Tod, seiner Auferstehung und Himmelfahrt hat Jesus für seine Nachkommenschaft in der Gemeinde gesorgt. Die Gemeinde ist Christi Braut (Offb 21,2; Mt 9,15-16). Jesus zeugt mit seiner Braut ständig neue Nachkommen (Eph 5,32).

Weil Christus zu uns gehören und mit uns verbunden sein will, hat er Fleisch und Blut angenommen, d. h. unsere Lebensform (V. 14-15). Hätte sich Jesus unser geschämt, dann wäre er niemals bereit gewesen Fleisch und Blut anzunehmen (V. 14a). So ist er aber unser Bruder und Hohe Priester geworden. Der Doketismus ist eine frühchristliche Irrlehre, die aus dem Gnostizismus stammt. Dokein bedeutet scheinen. Es wird behauptet, dass Jesus bloss einen „Scheinleib“ besass. Er habe deshalb im Schein gelitten und sei im Schein gestorben. Jesus könne niemals einen menschlichen Körper gehabt haben, weil Fleisch und Blut an sich schon sündhaft seien. Die Vollkommenheit Jesu und der fleischliche Leib seien ein Wiederspruch in sich. Für die Gnostiker war alles Geschaffene böse und sündhaft, was zur Askese führte durch Fasten, Ehelosigkeit und absichtliche Grausamkeiten gegenüber dem eigenen Leib. Genau das Gegenteil über Jesus lehrt uns hier der Hebräerbrief.

Weil Jesus Fleisch und Blut angenommen hat, ging er dem Tod entgegen (V. 14b). Denn Fleisch und Blut kann das Reich Gottes nicht erben. Auch wir werden einmal sterben und fürchten uns vielleicht vor dem Tod. Jesus hat mit seinem Leiden und Sterben den Tod entmachtet, zerstört, zunichte gemacht (καταργέω). Die Macht über den Tod hatte der Teufel (Kol 1,13-14). Die Todeswaffe des Teufels ist die Lüge (Joh 8,44). Mit seinen Lügen verführt er die Menschen zur Sünde (Gn. 3,4). Der Lohn der Sünde aber ist der Tod (Röm 6,23; Eph 2,1). Deshalb kam Jesus auf diese Welt, um die Werke des Teufels zu zerstören (1Joh 3,8).

Jesus zerstörte die Werke des Teufels -
  

- durch das gerechte Wort Gottes,

- durch sein sündenfreies Leben,

- durch sein Opfer am Kreuz das uns nun von Sünden befreit,

- durch seine Auferstehung von den Toten.

Der endgültige Untergang Satans samt seinen Engeln wird der grosse Gerichtstag sein (Offb 20,7-10).

Jesus hat uns vor dem Tod befreit (V. 15).
Wer zum unvergänglichen Leben in Christus wiedergeboren worden ist, der lebt ewig weiter und wird nicht mehr sterben (Röm 6,1-11). Über den hat der Tod keine Macht mehr (Joh 11,25). Der Tod ist verschlungen in Sieg (1Kor 15,55-58). Darum brauchen sich Gläubige in Christus nicht mehr zu fürchten vor dem Tod und vor dem Gericht Gottes (1Joh 4,17-18).

Jesus hat uns aus dieser Knechtschaft befreit (V. 15b).

Weil Jesus uns helfen wollte, wurde er Mensch wie wir (V. 16).
Er dachte niemals daran sich den Engeln anzunehmen. Wäre Jesus ein Engel gewesen, dann hätte er sich vermutlich Engeln angenommen. Doch die Engel brauchen keine Hilfe, da sie bereits im Himmel leben. Ausser die Engel, die gesündigt hatten, brauchen Hilfe (2Petr 2,4). Doch diese Hilfe ist grösser, als die, welche Jesus anbietet. Wäre Jesus ein Engel gewesen, dann wäre er vermutlich gar nicht auf die Idee gekommen, dass wir Menschen Hilfe brauchen. Nun aber ist Jesus Mensch geworden wie wir, um sich den Nachkommen Abrahams anzunehmen.

Wer sind die Nachkommen Abrahams? Es sind nicht bloss die Juden. Es sind alle Gläubigen damit gemeint. Paulus erklärt: Röm 2,28-29; 3,21-24; Gal 3,7.26-29.

Um unsere Sünden zu sühnen musste Jesus uns in allem gleich werden (V. 17).
Er bekam einen sterblichen Leib wie wir und musste sterben. Er wurde versucht wie wir und litt wie wir (Hebr 4,14-15). Nur in einem wurde er uns Menschen nicht gleich: er blieb frei von der Sünde (4,15). Deshalb ist Jesus auch unser perfekte Mittler (μεσίτης: 1Tim 2,5; Hebr 8,6; 9,15; 12,24). Dieser Gedanke musste für die Empfänger des Hebräerbriefs revolutionär gewesen sein. Denn als der Hebräerbrief geschrieben wurde gab es noch Hohe Priester, die im Amt standen. Der Hohe Priester war Mittler zwischen Gott und den Menschen. Weil die sündhaften Menschen sich Gott nicht nahen durften, gab es einen Hohen Priester. Der Hohe Priester ging einmal im Jahr (Yom Kippur) ins Allerheiligste, um Sühnung für sich und für das Volk zu schaffen (Lev 16). Doch die vielen symbolischen Handlungen des alttestamentlichen Hohen Priesters brauchte es in Zukunft nicht mehr. In diesem Brief wird gesagt, dass der levitische Hohe Priester ausgedient hat, weil Christus der bessere Hohe Priester sei (siehe Schatten und Wirklichkeit). Es wird weiter erklärt, dass all das vergossene Blut von Böcken und Kälbern die Sünden des Volkes nicht wirklich hinwegnehmen konnte (Hebr 9,11-14). Nur das Blut Jesu vermag unsere Sünden vollends zu sühnen (ἱλάσκομαι).

Weil Jesus gelitten hat, vermag er auch uns zu helfen (V. 18).
Wer nicht selbst durch Schmerz und Leid gegangen ist, wird andere, die solches durchgemacht haben, kaum verstehen können. Bsp. Wer körperlich stark ist, kann sich kaum vorstellen, wie es andern geht, die von Müdigkeit und Schmerzen geplagt werden. Bsp. Kluge Menschen werden leicht hochmütig über solche, denen das Lernen schwer fällt. Bsp. Auch die Liebe wird von uns Menschen oft so unterschiedlich empfunden, weil wir unterschiedliches durchgemacht oder verpasst haben. Doch bei Jesus liegt das alles ganz anders: Gott fühlt mit uns, weil sein Sohn Mensch wurde wie wir. Gott kennt unsere Not, weil Jesus selbst in Not war. Gott weiss genau wie viel wir in unseren Versuchungen fähig sind standzuhalten und zu überwinden, weil Jesus selbst versucht wurde. Gott fühlt nicht nur mit uns, sondern er vermag uns auch zu helfen, weil er dasselbe durchgemacht hat.

Jesus ist uns ein grosser Trost, wenn wir manchmal meinen, dass niemand uns richtig verstehen kann; Jesus kann uns verstehen und will uns helfen! Darum, lasst uns den Vater im Namen Jesu anrufen damit wir Barmherzigkeit erlangen und Gnade finden zur rechten Zeit (Joh 14,13; 16,23-24; Hebr 4,16; 2Kor 5,18-21)!

 

 Link:

- Hebräer 3Die Erhabenheit Christi