Auslegung-02: Erfordernisse für die Auslegung

Auslegung der Bibel

 

Was sind die Voraussetzungen oder Erfordernisse zur Auslegung? Welche innere Einstellung und welche Fähigkeiten werden für ein gewinnbringendes Schriftverständnis verlangt?

Was wird nicht verlangt?

Bevor wir in die Praxis gehen, möchten wir darauf hinweisen, was für eine korrekte Bibelauslegung nicht notwendig ist.

Man muss kein Theologiestudent zu sein

Das wichtigste, wir müssen keine Theologiestudenten sein, um die Bibel auszulegen. Jeder kann die Bibel lesen und verstehen, was Gott für uns Menschen zur Rettung angeordnet hat.

Manchmal sagen Experten, Leser müssten einen Uniabschluss haben, in den Originalsprachen gebildet sein, die antike Geschichte kennen und mit den Gegebenheiten der biblischen Zeiten gründlich vertraut sein. So behauptet Bernard Ramm in Protestant Biblical Interpretation zunächst, Bibelauslegung sei nicht auf die literarische Elite beschränkt, doch dann fordert er so hohe geistige Qualifikation für einen Ausleger, als bräuchte er zwingend eine akademische Ausbildung und Kenntnisse der Originalsprachen.

Daraus erkennen wir zwei Tatsachen: (1) Es gibt Spezialisten im Studium der Bibel; wir sind interessiert an ihren Aussagen. (2) Es ist wertvoll, eine Ausbildung zu machen, die biblischen Sprachen zu studieren und die alten Kulturen zu erforschen. Gleichwohl sollten wir nicht vergessen, dass die Bibel ursprünglich in der Sprache des einfachen Volkes geschrieben wurde; so konnten sie alle verstehen. Petrus betrachtet die Briefe von Paulus als Bestandteil der Heiligen Schriften. Er schreibt dazu: „In diesen [Briefen] ist einiges schwer zu verstehen …“ (2 Petr 3,15-16). Es gilt zu beachten, dass er nicht sagt „alles“, oder „das meiste“, sondern „einiges“. Tatsächlich ist das meiste in den Schriften relativ einfach zu verstehen.

Darum ist es besser, die Bibel zu lesen und sie selbst auszulegen. In gewisser Weise war es gerade das, was die Reformation im 16. Jahrhundert anstrebte – das Priestertum aller Gläubigen. Sie haben ein Recht darauf, die Bibel selbst zu lesen und auszulegen. Die grundlegende Botschaft der Bibel kann jeder verstehen, der sich darum bemüht. Man kann sie verstehen – wie andere Bücher.

Man braucht nicht vom Heiligen Geist erleuchtet zu sein

Wohl ist die Ansicht in evangelikalen Kreisen verbreitet, man müsse vom Heiligen Geist besonders erfüllt sein. Wenn zum Beispiel Ramm von den geistlichen Qualifikationen eines Auslegers spricht, dann schliesst er „die völlige Abhängigkeit der Führung und Lenkung des Heiligen Geistes“ mit ein. Eine andere Quelle beschreibt diese Auffassung wie folgt:

Gott schenkt seinen Anteil. Das ist die Erleuchtung des Heiligen Geistes. Damit erlangen wir den Gehorsam zu seiner Wahrheit. Eine Konsequenz dieser Glaubensanforderung ist die ständige Erneuerung des Heiligen Geistes. Wer sein Leben im Glauben an Jesus Christus, dem Herrn, übergeben hat, bei dem spricht die Bibel von einem Werk, das Gott in ihm bewirkt. Dieser persönliche Reifeprozess befähigt Gläubige, geistliche Wahrheiten zu empfangen und zu verstehen. Ungläubige besitzen diese Fähigkeit nicht (vgl. 1 Kor. 2,6-16; 2 Kor 3,15-18).

In dieser Sichtweise steckt ein Kern Wahrheit – wir brauchen nämlich die Hilfe Gottes, zum rechten Verständnis. Deshalb sollen wir Weisheit erbeten (Jak 1,5). Das Gebet ist aber kein Ersatz für aufrichtiges Bemühen.

Jene Sichtweise enthält falsche Elemente und wird mit zwei falsch verstandenen Schlüsselversen begründet.

Einige zitieren Johannes 3,3: „Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Dabei behaupten sie, eine nicht wiedergeborene Person könne das Reich Gottes nicht verstehen. Diese Behauptung kann aus zwei Gründen widerlegt werden: (1) Um wiedergeboren zu werden, muss man die Wahrheit verstehen. Die Christen in der Apostelgeschichte hörten zuerst das gepredigte Wort und verstanden es, bevor sie dann Christen – eben Wiedergeborene – wurden (vgl. 1 Petr 1,22-25). (2) Das Reich Gottes „sehen“ bedeutet in Johannes 3,3 nicht, es zu verstehen. Der Zusammenhang macht dies klar. In Johannes 3,5 gibt es eine Parallele; das entsprechende Verb heisst hier „hineingehen“. „Sehen“ ist also gleichbedeutend mit „hineingehen“. Dies wird durch die Tatsache erhärtet, dass das griechische Wort für sehen (idein) auch „erfahren“ bedeuten kann. Das Reich Gottes zu „sehen“, bedeutet also in Johannes 3,3, es zu „erfahren“.

Ein zweiter missverstandener Text befindet sich in 1 Korinther 2. Manche behaupten, dieses Kapitel lehre, nur solche könnten den Willen Gottes verstehen, die „vom Heiligen Geist erleuchtet worden sind“. Der Schlüsselvers dazu ist Vers 14:

„Ein natürlicher Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird.“

Die Idee ist vergleichbar mit Paulus’ Aussage Paulus in 1 Korinther 1,18-25: Das Evangelium ist eine Torheit für alle, die sich auf ihre eigene Weisheit verlassen. Vers 14 besagt nicht, die Ungläubigen seien unwissend, bevor sie vom Heiligen Geist erleuchtet werden. Vielmehr kann der fleischliche Mensch die Lehre des Evangeliums weder akzeptieren noch wertschätzen.

Paulus lehrt nicht, ein Mensch brauche zuerst Hilfe vom Heiligen Geist; erst danach könne er die Bibel auslegen. Die Sichtweise, eine besondere Erleuchtung durch den Heiligen Geist sei notwendig für die rechte Schriftauslegung, enthält drei logische Widersprüche: (1) Sie will damit ausdrücken, man könne durch das Studium der Schrift nicht gerettet werden. Es ist aber das Wort Gottes, das Ungläubige – ohne den Heiligen Geist! – zum Gehorsam anleitet. Es schenkt ihnen das Verständnis des Evangeliums zu ihrer Rettung. (2) Sie behauptet, die göttlich inspirierte Schrift sei ursprünglich mangelhaft gewesen. Braucht der Mensch wirklich noch eine weitere Inspiration, um Gottes Wille zu verstehen? (3) Jene machen Gottes Wort so zur Quelle der Spaltung. Wenn diejenigen, die an die „Erleuchtung“ glauben, zu unter-schiedlichen Schlussfolgerungen gelangen, dann machen sie Gott zum Ursprung ihrer widersprüchlichen Auslegung. Zudem wird in der Bibel festgestellt, dass Gott nicht der Urheber des Durcheinanders ist (1 Kor 14,33).

Man muss nicht zuerst ein heiliges Leben führen

Gelegentlich wird behauptet, man müsse ein heiliges Leben führen als Voraussetzung für eine fundierte Auslegung. Christen sind aufgefordert, ein heiliges Leben zu führen. Dennoch ist es keine Bedingung für eine korrekte Auslegung, ein treuer Christ oder überhaupt Christ zu sein.
Natürlich müssen wir unterscheiden zwischen dem ursprünglichen Sinn einer Schriftstelle in ihrem Zusammenhang und ihrer Anwendung (d. h. wie wir sie in unserem Leben umsetzen und den von Gott beabsichtigten Gewinn daraus ziehen können). Die Lehre des Wortes Gottes bezweckt den praktischen Nutzen. Man kann die Schrift verstehen, ohne einen Nutzen davon zu haben. Jemand kann verstehen, was die Bibel mit „du sollst nicht ehebrechen“ (Ex 20,14) meint - auch wenn er sich nicht daran hält.

Warum ist eine geheiligte Lebensführung nicht eine Voraussetzung für die richtige Auslegung? Etliche glauben, man müsse ein gerechtes Leben führen; erst dann könne man die heiligen Schriften auslegen. Dies würde bedeuten: Ein Nicht-Christ oder untreuer Christ kann keinen Nutzen aus seinem Studium ziehen. Er kann aber sehr wohl begreifen, was zu tun ist, um gerettet zu werden. Der Glaube kommt aus dem „Hören des Wortes Gottes“ (Röm 10,17). Durch den Glauben werden wir gerettet (Röm 10,9-10).

Ein heiliges Leben wird nicht verlangt, wenn wir die Schrift begreifen möchten. Gott spricht in der gleichen Art zu uns, wie wir Menschen untereinander. Niemand muss an Shakespeare oder an irgendeinen anderen Schriftsteller „glauben“, um deren Schriften zu interpretieren. Wir können ein Buch über Evolution lesen und interpretieren, auch wenn wir mit den Aussagen nicht einverstanden sind.

Das Wesen der inspirierten Lehre ist dadurch gekennzeichnet, dass Gott in ihrer eigenen menschlichen Sprache zu Menschen und durch Menschen spricht. Darum besteht die Botschaft der Bibel aus Worten, die genauso verstanden werden können, wie sie von Anfang an von den Menschen verstanden wurden. Der Unterschied zwischen den Worten der Bibel und den Worten anderer historischer Dokumente liegt nicht in ihrer Verständlichkeit. Der Unterschied betrifft ihren Gegenstand, ihren Ursprung, ihre Zuverlässigkeit und letztendliche ihre Bedeutung. Wir können die gleichen Methoden, die wir für die Interpretation historischer Texte nutzen auch für die Auslegung der Bibel anwenden. Warum? Weil Gott zu Menschen durch Menschen in ihrer Sprache gesprochen hat. Darum wird ein unvoreingenommener Ungläubiger beim Lesen der Bibel zum gleichen Ergebnis kommen wie der Gläubige, wenn sich beide nur auf die Schrift stützen. Wenn der Ungläubige allerdings den Bibeltext nicht genügend wertschätzt, kann er seine vollständige Bedeutung nicht erfassen.

Was sollen wir nun von den Aussagen ungläubiger Gelehrter über die Bibel halten? Was Ungläubige schreiben, kann uns trotzdem bereichern, wenn sie herausfinden, was der Bibeltext tatsächlich aussagt - und was er für die ursprünglichen Leser bedeutet hat.

Was wird verlangt?

Was ist nötig, um die Bibel auszulegen? Dazu wollen wir beides betrachten; Einstellung und Fähigkeit.

Eine gesunde Einstellung wird verlangt

Wir können nichts lernen, wenn wir nicht eine gesunde Einstellung gegenüber dem Stoff haben. Es gilt die biblische Wahrheit zu verstehen und anzuwenden. Wenn die gesunde Einstellung dazu fehlt, ist die Person ungeeignet. Was gehört zur rechten Einstellung? Von den neun vorgestellten Punkten sind die ersten sechs notwendig, um einen Text in seinem Zusammenhang auszulegen. (Diese Prinzipien gilt es auch zu beherzigen, wenn ein Text von Shakespeare interpretiert werden soll.) Die letzten drei Punkte sind notwendig, damit die Schrift die beabsichtigte Wirkung im Leben des Betrachters erreicht.

1. Eifer zum Lernen. Nur die, welche nach Gerechtigkeit „hungern und dürsten“ werden gesättigt werden (Mt 5,6). Wie bei Esra geht es darum, unser Herz darauf auszurichten, „das Gesetz des Herrn zu erforschen und zu tun“, und „die Ordnung und das Recht zu lehren“ (Esra 7,10).

2. Erfolg erwarten. Die Bibel ist verständlich und wir dürfen davon ausgehen, dass wir sie erfassen können (siehe Eph 3,4). Wenn wir nicht davon überzeugt sind, ein schriftliches Werk (wie die Bibel) interpretieren zu können, werden wir uns auch nicht anstrengen.

3. Die Wahrheit lieben. In 2 Thessalonicher 2,9-12 spricht Paulus über solche, denen Gott „eine wirksame Kraft des Irrwahns sendet, damit sie der Lüge glauben,“ mit dem Ergebnis, dass sie „gerichtet werden“. Warum sendet Gott dieser Gruppe von Menschen den Geist des Irrwahns? Paulus sagt: „Weil sie die Liebe zur Wahrheit zu ihrer Rettung nicht angenommen haben.“ Der Mangel an Liebe zur Wahrheit kann zur Verdammung führen.

In der Tat, jeder kann nur lernen, wenn er die Wahrheit liebt. Stell dir vor, jemand glaubt aus Blei Gold machen zu können. Wenn einer einen Kurs für Fortgeschrittene in Chemie oder Metallurgie belegt und seine Theorie mehr liebt als die Wahrheit, die ihm vermittelt wird, kann er nicht das Geringste in diesem Kurs lernen.

4. Bereitschaft zum Arbeiten. Das rechte Verständnis des Wortes Gottes setzt den Fleiss bei der Arbeit damit voraus (siehe 2 Tim 2,15; 1 Petr 3,15). Nicht alles ist leicht zu verstehen. Immer wieder verstehen Menschen die Bibel nicht, weil sie sich zu wenig Mühe gegeben haben.

5. Vermeidung von Vorurteilen und vorgefassten Meinungen. Obwohl es nahezu unmöglich erscheint – zumindest in manchen Passagen – ohne vorgefasste Meinung an biblische Aussagen heranzugehen, müssen wir alles daransetzen, die Schrift unvoreingenommen zu studieren (Apg 17,11; Lk 8,15).

Wir brauchen einen aufgeschlossenen Geist, wenn wir die Bibel lesen oder ein bestimmtes Gebiet erforschen. Ein abgeschottetes Denken führt zu Fehlschlüssen. Wie können wir uns davor bewahren, beim Studium nur das zu sehen, was wir sehen wollen? Eine Hilfe dazu ist, nach jeder Schlussfolgerung zu einem Abschnitt die Frage zu stellen: Gibt es irgendeine andere Möglichkeit, wie dies verstanden werden kann?

6. Geistige Demut. Stolz kann den Ausleger dazu verleiten, nach Ideen zu suchen, die noch niemand zuvor dargelegt hat. Oder der Stolz lässt ihn an Meinungen festhalten, die jeglicher Grundlage entbehren. Um Stolz zu vermeiden, müssen wir uns in Erinnerung rufen, (1) dass wir nicht die Quelle aller Weisheit sind, (2) dass sich unsere Meinung wahrscheinlich in Zukunft noch verändern wird, (3) dass unsere ganz neue Sichtweise verfehlt sein kann, wenn wir etwas entdecken, was noch niemand vor uns entdeckt hat und (4) dass wir nie alles wissen werden und jede Frage beantworten können.

7. Ehrfurcht vor der Bibel. Die Bibel muss als Wort Gottes akzeptiert und respektiert werden (1 Thess 2,13; 2 Tim 3,16-17). Wenn wir das nicht tun, verstehen wir zwar die Schrift, aber sie kann uns nicht verändern.

8. Das Verlangen, Gottes Willen zu tun. Wir studieren nicht, (1) weil die Bibel ein literarisch grossartiges Werk ist, (2) aus reiner Neugier, (3) um Argumente ins Feld zu führen, (4) um scheinbare Widersprüche in der Bibel zu finden oder (5) um uns selbst zu rechtfertigen. Vielmehr studieren wir, um Gottes Willen zu erkennen und zu tun. Unser Verlangen ist es, „Täter des Wortes und nicht allein Hörer zu sein“ (Jak 1,22).

9. Abhängigkeit von Gott. Gemäss Jakobus 1,5 sollen wir Gottes Weisheit erbitten.

Gewisse Fähigkeiten sind hilfreich

Welche Fähigkeiten brauchen wir in Ergänzung zur oben aufgeführten Einstellung? Mindestens vier Gaben sind wichtig.

1. Gut lesen können. Am wichtigsten ist die Fähigkeit, lesen und verstehen zu können was man liest. Zum Beispiel beginnt der Römerbrief mit einem Satz, der in gewissen Übersetzungen 7 Verse lang ist (Zürcher Bibel 2007). Der Leser muss sieben Verse lesen, um herauszufinden, an wen dieser Brief geschrieben wurde. Um solche Sätze zu verstehen, braucht es gute Leserfähigkeiten. Ein weiteres Beispiel finden wir in Josua 24,15: „Erwählt euch heute, wem ihr dienen wollt.“ Hier zeigt sich, wie notwendig geschultes Lesen ist. Wir verwenden diesen Vers gerne, um bewusst zu machen, dass wir zwischen Gott und einem anderen Herrn wählen müssen. Doch wenn wir die Verse sorgfältig lesen, stellen wir folgendes fest: Josua stellte das Volk vor die Wahl, welchen anderen Göttern sie dienen möchten, wenn sie den Herrn ablehnen. Die Verse 14+15 lauten:

„So fürchtet nun den Herrn und dient ihm in Aufrichtigkeit und Treu! Und tut die Götter weg, denen eure Väter jenseits des Stroms und in Ägypten gedient haben, und dient dem Herrn! Ist es aber übel in euren Augen, dem Herrn zu dienen, dann erwählt euch heute, wem ihr dienen wollt: entweder den Göttern, denen eure Väter gedient haben, als sie noch jenseits des Stromes waren, oder den Göttern der Amoriter, in deren Land ihr wohnt …“
Hier zeigt sich, die Wichtigkeit der sorgfältigen Leseart.

2. Logik gebrauchen. Wir brauchen die Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen und Logik anzuwenden. Ein forschender, analytischer Verstand erstrebt eine logisch aufgebaute Erkenntnis. Diese wiederum gewinnt die zutreffende Schlussfolgerung über die Bedeutung der Schriftstelle.

Wir bedienen uns der Logik, weil sie in der Natur des Sprachgebrauchs und des Aufbaus von Argumenten liegt. Unsere Beziehung zu Gott basiert nicht nur auf Logik, aber die Bibel gebraucht sie. In Richter 14,18 braucht Simson Logik, weil er feststellen musste, dass seine Frau sein Geheimnis Philistern verraten hat. Jesus appelliert an logisches Denken, wenn er Fragen aufgrund seiner Gleichnisse stellt (siehe Lk 10,36).

Auch wenn ein „gesunder Menschenverstand“ schwierig zu definieren ist; er ist wichtig. Zum Beispiel ist die Aussage „die Welt würde die Bücher nicht fassen“ (Joh 21,25), eine bewusste Übertreibung. Können wir dies beweisen? Nein, denn es ist eine Sache des gesunden Menschenverstands.

3. Griechisch und Hebräisch können. Wenn möglich sollten wir etwas über die Sprachen wissen, in denen die Bibel ursprünglich geschrieben wurden: Griechisch und Hebräisch. Auch wenn die Fähigkeit, diese Sprachen lesen zu können, für die genaue Auslegung der Bibel nicht ausschlaggebend ist, so sind ihre Kenntnisse doch hilfreich.

4. Kulturübergreifend auslegen. Wir benötigen die Fähigkeit der kulturübergreifenden Auslegung. Mit Phantasie und Einfühlungsvermögen treten wir in eine andere Kultur ein, um ihr Schrifttum zu verstehen.

Kommentatoren der Schrift sprechen gelegentlich von der Lücke, die uns von den Schreibern und den ersten Empfängern trennt; eine Lücke der Sprache, Zeit, Geographie, Kultur und Bräuche. Solche Lücken werden überbrückt, wenn wir kulturübergreifend auszulegen können. Die Bibel spricht aus einer entfernten Kultur zu uns und wir hören sie aus jener entfernten Kultur. Es gilt einige Unterschiede zu beachten zwischen der Kultur der biblischen Zeit und unserer jetzigen. Zwei Beispiele:

a. Im Buch Rut wird ein Geschäft nicht durch einen geschriebenen Vertrag oder durch Handschlag besiegelt sondern durch den Austausch der Sandalen (Rut 4,7).

b. In Amos 4,6 sagt Gott: „Und so habe ich euch blanke Zähne gegeben in all euren Städten.“ Es meint, Gott habe ihnen eine Hungersnot gesandt. Wir wollen heute saubere Zähne. Offenbar hatten damals die Menschen nur saubere Zähne, wenn sie nichts zu essen hatten.

Die erforderliche kulturübergreifende Auslegung erreichen wir durch das Studium der antiken Kulturen. Nur so erschliesst sich uns das Verständnis der Bibel und lässt uns in das Leben und die Ereignisse jener Menschen eintauchen und mitfühlen.

Folgende Werkzeuge sind für das Bibelstudium hilfreich

Es gibt verschiedene nützliche Werkzeuge für das Bibelstudium. „Werkzeuge“ sind Hilfsmittel. Sie ermöglichen es dem Bibelausleger, Schlussfolgerungen zu ziehen bezüglich der ursprünglichen Textaussage und was dies für uns heute bedeutet. Ein Zimmermann oder ein Spengler braucht Werkzeuge, um seine Arbeit ausführen zu können. In gleicher Weise verfügt auch ein Ausleger über bestimmte Werkzeuge für die Ausführung seiner Arbeit.

Die Bibel. Selbstredend ist das wichtigste Buch für das Bibelstudium die Bibel selbst. Man kann auch eine Studienbibel benutzen, welche neben dem Bibeltext auch zahlreiche Studienhilfen enthält. Sie kann einige oder alle der folgenden Punkte enthalten:

1. Eine kurze Einführung zu jedem Buch.

2. Überschriften im Text und/oder im Seitenkopf.

3. Referenzen zu anderen Textstellen, die das gleiche Schlüsselwort verwenden oder den gleichen Gedanken behandeln.

4. Fussnoten (oder Hinweise am Seitenrand) die auf Textvarianten oder anderes nützliches Material hinweisen.

5. Karten.

6. Eine gekürzte Konkordanz.

7. Ein Bibellexikon.

Bei einer Studienbibel seien wir uns bewusst, dass der Text der Bibel inspiriert ist, nicht aber die Hinweise. Während Studienhilfen nützlich sein können, gibt es keine Garantie für zutreffende Erläuterungen. Sie sollten nüchtern betrachtet, aber nicht als Wort Gottes verstanden werden.

Übersetzungen. Nebst der Übersetzung für unser Studium sollten wir auch eine zweite Übersetzung zur Hand haben. Übersetzungen unterscheiden sich in ihrem Wert. Wenn wir sie aber vergleichen, kann es uns helfen, einen Abschnitt besser zu verstehen. Zum Beispiel können wir bei der christlichen „Liebe“, wie sie Paulus in 1 Korinther 13,4-7 beschreibt, durch verschiedene Übersetzungen mehr Aufschluss über ihr Wesen gewinnen.

Kommentare. Sie enthalten erklärende Bemerkungen zu bestimmten Büchern der Bibel. Auch wenn wir von Natur aus geneigt sind, sofort in einem Kommentar nachzuschlagen, sollten wir zunächst selbst über den Text nachdenken. Es ist besser zuerst eigene Schlussfolgerungen aus einem Text zu ziehen, bevor Kommentare herangezogen werden. Wir können unsere Gedanken und Auslegungen später immer noch korrigieren, wenn wir die Schlussfolgerung eines bestimmten Kommentars zutreffender finden. Diese Bereicherung erfahren wir nur, nachdem eigenes Bemühen um einen Bibeltext vorausgegangen ist.

Kommentare sind sehr unterschiedlich. Einige sind exegetisch (erklärend) und betonen die Bedeutung des Textes in seinem eigenen Zusammenhang. Andere sind praktisch, aufbauend und betonen die Bedeutung für uns heute. Andere sind homiletisch und betonen Möglichkeiten, wie ein Text gepredigt werden kann. Noch andere sind technisch, ausgelegt für Gelehrte und betonen die Bedeutung des Textes in seiner Ursprache. Schliesslich gibt es noch populäre, geschrieben für den Durchschnittsleser oder für solche, die besondere Akzente suchen. Im Weiteren können sich Kommentare liberal oder konservativ orientieren. Es gibt Bücher, die einen persönlichen Standpunkt vertreten – eine bestimmte Lehre oder Sichtweise, die der Autor bei jeder Gelegenheit betont.

Wie soll ein Kommentar ausgewählt werden? Bevor wir einen Kommentar oder eine Kommentarreihe benutzen, sollten wir uns mit den Voraussetzungen und Zielen des Autors bzw. der Serie vertraut machen. Ein Buch muss danach beurteilt werden, welche Absicht der Autor verfolgt. Wenn seine Ziele nicht mit dem übereinstimmen, wie der Text verstanden werden sollte, können wir nicht umhin, es entweder gar nicht oder nur sehr bedingt in Betracht zu ziehen; also prüfend darüber nachdenken, was ausgesagt wird. Im Weiteren streben wir als vorrangiges Ziel an, was der Text in seinem Zusammenhang bedeutet. Daher sollten wir jenen Kommentaren den Vorzug geben, welche die Auslegung (d. h. die Exegese) betonen. Schliesslich sollten wir uns bewusst sein, dass die Kommentare der Menschen über die Bibel zwar nützlich sein können, aber nicht inspiriert sind. Deshalb sollten wir nüchtern beurteilen, was wir lesen und nicht alles unreflektiert hinnehmen, was wir in Kommentaren vorfinden.