Auslegung-01: Erste Schritte in der Auslegung

Auslegung der Bibel

 

In den Sprüchen 22,6 heisst es: „Erziehe den Knaben seinem Weg gemäss; er wird nicht davon weichen, auch wenn er älter wird.” Es ist nicht schwierig zu verstehen, was der Schreiber sagt. Doch was meint er damit?

Einige legen das so aus: „Wenn wir unsere Kinder lehren, das Rechte zu tun und sie in einem christlichen Elternhaus aufziehen, werden sie Christen werden und immer treu sein.“ Andere entgegnen: „Nein, damit ist gemeint, dass das Kind den Herrn auch verlassen kann, obwohl es richtig belehrt wurde, aber wenn es älter wird, dann wird es zum Glauben zurückkehren und ihn nie mehr verlassen.“ Wieder andere sagen: „Dieser Vers sagt überhaupt nichts über Kindererziehung „im Glauben“ aus. Vielmehr offenbart diese Aussage ein Prinzip, nämlich: Wenn wir das Kind auf dem Weg, den es persönlich gehen soll, in eine gesunde Entwicklung einführen, dann wird es glücklich und bleibt bei dieser Bestimmung.“ Wer hat Recht? Wie können wir sicher sein, wer Recht hat?

Wir können eine Reihe von Argumenten auflisten, die zeigen, dass Sprüche 22,6 nicht von einem unveränderbaren Gesetzt spricht (auch wenn wir diesen Vers schon auf diese Weise gepredigt haben). Die beste Erklärung ist, dass diese Aussage ein Spruch, eine Redensart, eine Lebensweisheit ist und kein Gesetz.

Wenn ein Abschnitt aus der Bibel vorgelesen wird, versuchen die Zuhörer zu verstehen, was damit gemeint ist. Diesen Vorgang nennen wir Auslegung; einen Text verstehen zu wollen, heisst einen Text auszulegen. Diese dreiteilige Serie beschäftigt sich mit dem Thema der richtigen Auslegung der Bibel. In den ersten beiden Teilen A und B betrachten wir, wie ein Text in seinem eigenen Zusammenhang verstanden werden muss. Im dritten Teil C untersuchen wir, wie der biblische Text in unserer heutigen Zeit und Situation angewandt wird. In diesem Einführungskapitel machen wir uns Gedanken über das „Warum“ und das „Wie“ ein Text ausgelegt werden sollte.

Warum machen wir uns Gedanken über die Auslegung?

Gelegentlich stellen sich Bibelgläubige auf den Standpunkt, dass es keine „Auslegung“ brauche. Ein Prediger liebte es jeweils zu sagen: „Dieser Abschnitt braucht keine Auslegung, er muss nur angewandt werden.“ Teilnehmer einer Bibelstunde sagen manchmal, „die Bibel legt sich selbst aus, sie ist ihr bester Ausleger“, oder „die Bibel sagt, was sie meint oder meint, was sie sagt.“ Wie dem auch sei, alle diese Bemerkungen setzen voraus, dass eine Auslegung bereits stattgefunden hat.

In diesen Aussagen steckt aber auch etwas Lobenswertes. Denn solche Menschen glauben, dass die Bibel von Gott kommt (2 Tim 3,16-17), dass sie für den Leser gelten und von Durchschnittspersonen verstanden werden können. Trotzdem, wenn wir die Bibel wirklich verstehen wollen, was das Ziel jeder Auslegung ist, brauchen wir präzise und umfassende Methoden dafür.

Warum ist es nötig, nützliche Methoden für die Auslegung der Schrift zu kennen?

1. Weil Gott zu uns gesprochen hat. Gott hat zu uns gesprochen und wir wollen auch verstehen, was er damit meint – und zwar genau. Manchmal sind Theologiestudenten, die nicht an die göttliche Inspiration der Bibel glauben, gewissenhafter, wenn sie versuchen die genaue Bedeutung zu verstehen, als diejenigen, die an die „verbale Inspiration“ glauben. Während ungläubige Theologiestudenten hart arbeiten, um die genaue Bedeutung eines Wortes oder eines Satzes in der Originalsprache herauszufinden, begnügen wir Gläubigen uns schnell mit einer ungefähren Bedeutung des Abschnitts. Unser Glaube, dass die Bibel wirklich Gottes Wort ist, muss uns aber mehr als alle anderen dazu motivieren, genau zu sein im Verständnis, was uns Gottes Wort sagen will.

2. Weil eine Auslegung vielseitig sein kann. Wir alle legen die Bibel aus. Wenn wir die Bibel lesen, versuchen wir sie mittels bestimmter Methoden der Auslegung zu verstehen. Die Frage ist daher nicht, ob wir die Bibel auslegen sollen oder nicht, sondern ob wir sie richtig auslegen.

3. Weil gute Verständigung oft schwierig ist. Kommunikation ist herausfordernd. Wie oft haben wir unsere Ehefrau/ unseren Ehemann missverstanden? Die Schwierigkeit, die Bibel richtig zu verstehen, ist offensichtlich und daher eine Tatsache. Deshalb kommen Brüder und Schwestern mit der gleichen Voraussetzung manchmal zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Zu verstehen, was andere mündlich oder schriftlich ausgesagt haben, kann für uns anstrengend sein.

4. Weil kulturübergreifende Kommunikation besonders schwierig ist. Wenn die Verständigung in derselben Sprache schon schwierig ist, wie viel mehr dann, wenn sie kulturübergreifend ist. Mit der Bibel haben wir eine kulturübergreifende Kommunikation. Sie spricht von Völkern, die über tausende von Jahren und tausende von Kilometern von uns entfernt sind mit einer Kultur, die sich in hohem Mass von der unsrigen unterscheidet. Es war Gottes Wille, sein Bibelwort in eine irdische Sprache und in ein menschliches Umfeld zu setzen. Deshalb ist es wichtig genau zu studieren, in welchem historischen und kulturellen Umfeld die Textabschnitte geschrieben wurden.

In Genesis 23 beispielsweise beabsichtigte Abraham einen Platz für das Grab Saras von Efron, dem Hetiter, zu erwerben. Nachdem Abraham angeboten hatte, das Landstück zu erwerben, weigerte Efron dafür Geld anzunehmen und sagte, er wolle ihm das Land schenken. Doch Abraham beharrte darauf zu bezahlen. Schliesslich sagte Efron (Gen 23,15): „Mein Herr höre mich an! Ein Land von vierhundert Schekel Silber, was ist das zwischen mir und dir? So begrabe deine Tote!“ Daraufhin zahlte Abraham die vierhundert Schekel für die Grabstätte. Was geschah in diesem Gespräch? War es Efron ernst, dem Abraham das Landstück gratis anzubieten? Sehr wahrscheinlich war es die Art, wie die Leute in jenen Tagen miteinander verhandelten. Diese Art zu verhandeln unterscheidet sich von der Art wie die meisten Leute heute kaufen und verkaufen. Wenn wir diesen Handel gemäss den Bedingungen einer anderen Kultur interpretieren wollen, laufen wir Gefahr etwas falsch zu verstehen.

5. Weil es leicht zu einer falschen Auslegung kommt. Es ist leider so, dass wir – sogar die besten Bibellehrer unter uns – gelegentlich darin irren, die Bibel korrekt zu verstehen, d. h. sie richtig auszulegen.

Wir haben schon Sprüche 22,6 erwähnt und gezeigt, wie die Schrift missverstanden werden kann. Ein anderes Beispiel findet sich in Hebräer 12,23a, wo von „der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel angeschrieben sind“, die Rede ist. Bezieht sich hier der Begriff „Erstgeboren“ auf Christus, der in Kolosser 1,18 als „Erstgeborener von den Toten“ beschrieben wird? Im Hebräer 12,23 steht „Erstgeborenen“ in der Mehrzahl (Plural) und kann sich daher nicht auf Christus beziehen. Dies wird durch den griechischen Urtext bestätigt.

Beide Beispiele zeigen, wie notwendig es ist, mit der Heiligen Schrift sorgfältig umzugehen. Wenn wir die Bibel richtig verstehen wollen, können wir uns nicht einfach von dem führen lassen, was uns zuerst in den Sinn kommt, was wir darüber gehört haben oder was dazu gelehrt wurde. Deshalb ist es notwendig zu lernen, wie die Bibel auszulegen ist, damit wir Gottes Wort richtig verstehen können, wie es ursprünglich gemeint war.

Was ist die Aufgabe der Auslegung?

„Die Aufgabe der Schriftauslegung“ ist mit den zwei Tabellen am Ende dieses Kapitels beschrieben. Sie unterscheiden zwischen der Auslegung der Bibel und der Wirkung der Bibel auf den Leser. Selbstverständlich ist es wertvoll die Bibel als Andachtsbuch zu lesen und sich dabei zu fragen: „Was kann ich aus dieser Stelle für mich herausnehmen?“ Oder: „Was bedeutet dieser Vers für mich?“ Trotzdem ist andächtiges Lesen und den Text auf sich wirken zu lassen nicht dasselbe wie Auslegung. Wenn wir die Bibel auslegen, fragen wir, was die Bibel meint und nicht nur, was eine bestimmte Aussage für mich bedeutet oder was ich dabei empfinde.

Wie können wir anfangen, die Bibel zu verstehen? Drei Fragen sollten bei der Auslegung eines Bibeltextes und seiner Beziehung im Zusammenhang gestellt werden. (1) Was wird gesagt? (2) Was bedeutet das? Dabei ist es besonders wichtig herauszufinden, was es für die Empfänger damals bedeutete. (3) Wie wird dies angewandt? Jede Bibelstelle kann in irgendeiner Weise auch für uns von Bedeutung sein. Unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, wie sie angewandt werden soll. Es kann eine geschichtliche Tatsache sein, die wir wissen sollten oder ein Beispiel, das wir nachahmen sollten. Möglicherweise ist eine Lehre enthalten, die es zu befolgen gilt. Manchmal wird auf ein Gesetz hingewiesen, auf eine Regel oder auf ein Prinzip, das wir in unser tägliches Leben umsetzen sollten.

Bevor wir nicht die ersten beiden Fragen beantwortet haben, können wir uns auch nicht der dritten annehmen. Darum müssen wir, wenn wir einen Abschnitt auslegen wollen, damit beginnen, die Stelle in ihrem gesamten Zusammenhang zu untersuchen. Das heisst, es gilt zu verstehen, wie der Bibeltext von den ersten Lesern verstanden wurde. Diese Definition von „Auslegung“ mag uns etwas einschränken, denn es kann bedeuten, dass wir bestimmte Stellen neu überdenken müssen, weil wir sie in der Vergangenheit falsch angewandt haben. War zum Beispiel Agrippa „beinahe überzeugt“ als er sagte (Apg 26,28): „In kurzem überredest du mich, ein Christ zu werden“, oder meinte er das sarkastisch? Lehnte er Paulus ab, indem er mit andern Worten sagte: „Meinst du etwa, du könntest mich so schnell überzeugen Christ zu werden?“ Diesen Vers in seinem eigenen Zusammenhang zu verstehen, kann unser Verständnis verändern und das Interesse für die Wahrheit fördern. Erst wenn wir verstanden haben, wie eine Bibelstelle von den Lesern damals verstanden und angewandt wurde, sind wir fähig, sie auch heute für uns richtig anzuwenden.

Begriffe definiert
Auslegung: Was verstehen wir unter „Auslegung“? Das Lexikon erklärt „auslegen“ bzw. „interpretieren“ mit „erläuternd, erklärend, zu deuten suchen, mit einem Sinn versehen.“ Wenn wir interpretieren, versuchen wir die Bedeutung einer Aussage zu verstehen. In der biblischen Auslegung werden wir mit zwei Aufgaben konfrontiert: Mit der Bedeutung, die der Text für die ersten Leser hatte und mit der Bedeutung, die der Text für uns heute hat, – d. h. die Bedeutung damals und die Bedeutung heute. Wir suchen die eindeutige Aussage, nicht eine versteckte Botschaft, die nur einer Elite oder einem Kreis von Eingeweihten offen steht.

Hermeneutik: „Hermeneutik“ stammt vom griechischen Wort für „Auslegung“, „Übersetzung“ (hermeneia oder hermeneuo, „übersetzen“). Dieses Wort lässt sich in verschiedenen Stellen des Neuen Testaments finden. Es ist hergeleitet vom griechischen Gott Hermes, dem Botschafter Gottes. Es bedeutet nach Bernard Ramm: „die Wissenschaft und die Kunst der biblischen Auslegung.“ Dies wird in zweifacher Hinsicht gebraucht: die Bedeutung der Schrift herausfinden und die Anwendung dieser Bedeutung für uns Menschen heute bestimmen. In unserem Zusammenhang bedeutet das, dass wir uns dafür einsetzen, die Bedeutung der Bibel für uns Menschen heute festzustellen.

Exegese: Was ist Exegese? Das Wort stammt aus dem Griechischen und heisst wörtlich „herausführen“. Dieser Begriff wird definiert als „das sorgfältige, systematische Studieren der Schrift, um so die ursprünglich beabsichtigte Bedeutung zu entdecken … Es ist der Versuch, eine Aussage wie die ersten Empfänger zu hören, um die ursprüngliche Absicht des Bibelwortes herauszufinden.“ „Exegese“ ist daher der Versuch, die Bedeutung einer Stelle in ihrem eigenen Zusammenhang zu entdecken. Es wird untersucht, was der Autor ursprünglich seinen damaligen Lesern sagen wollte.

Auslegung beinhaltet folglich zwei Teile:

1. Bestimmung dessen, was der Abschnitt bedeutete als er geschrieben wurde (Exegese).

2. Bestimmung und Anwendung der Bedeutung des Abschnitts für uns heute (Hermeneutik).

Oftmals wird beim Studium, „die Auslegung der Schrift“ der erste Schritt, die Exegese, vernachlässigt und der Schwerpunkt nur auf die Hermeneutik als zweiten Schritt gelegt.

Eisegese: Das Wort „eisegesis“ heisst „hinein legen“, das heisst, willkürlich etwas in eine Stelle hinein-lesen, was man selber sagen möchte. Vieles, was „Exegese“ genannt wird, ist tatsächlich oft „Eisegese“.

Homiletik: Homiletik ist das Studium der Vorbereitung, wie eine Predigt gehalten wird. Zuerst muss der Prediger oder Lehrer die entsprechende Bibelstelle einer sauberen Exegese unterziehen, das heisst, er muss die Stelle in seinem eigenen Zusammenhang verstehen. Danach gilt es die richtige Anwendung zu finden, indem die Bedeutung des biblischen Textes für uns heute erklärt wird; das ist Hermeneutik. Drittens muss er überlegen, wie die gefundene Wahrheit am besten seinen Zuhörern präsentiert wird – dieser Vorgang nennt man Homiletik. Exegese führt zu Hermeneutik oder zur Anwendung, die mit einer guten Homiletik vorgetragen wird.

Die Aufgabe der Schriftauslegung

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Die Reihenfolge ist wichtig! Diese drei Fragen müssen in der richtigen Reihenfolge gestellt werden, um eine Schriftstelle richtig verstehen und anwenden zu können. Solange wir eine Bibelstelle nicht im ursprünglichen Zusammenhang verstanden haben, können wir sie auch nicht richtig anwenden und auf unsere heutige Zeit übertragen.

Die Voraussetzung für das wirkungsvolle Lesen

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Diese Art, mit der Heiligen Schrift umzugehen, hat einen hohen Stellenwert. Sie sollte aber noch nicht mit der „Auslegung“ selbst oder dem richtigen „Verständnis“ gleichgesetzt werden.