Begriffe2-24: Egkrateia – Keuschheit

Fleisch oder Geist

William Barclay

 

Die neunte und letzte Eigenschaft der Frucht des Geistes ist egkrateia, im Deutschen wieder-gegeben mit Keuschheit, Enthaltsamkeit, Mässigkeit, in manchen modernen Übersetzungen mit Selbstbeherrschung oder Selbstzucht.

Das NT selbst bietet uns wenig Material, anhand dessen wir die Bedeutung des Wortes untersuchen könnten. Egkrateia kommt ausser in Galater 5 noch an zwei anderen Stellen des Neuen Testaments vor. Paulus sprach mit dem römischen Landpfleger Felix und seiner Frau Drusilla über Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit (Apg 24,25). Petrus ermahnt den Leser in seinem zweiten Brief, in der Erkenntnis Mässigkeit und in der Mässigkeit Geduld zu beweisen (2 Petr 1,6).

Das zu egkrateia gehörige Verb egkrateyomai kommt im NT zweimal vor. Es bedeutet, beherrscht zu sein oder Selbstbeherrschung zu üben. In 1. Korinther 7,9 erörtert Paulus die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, und er empfiehlt ledig zu bleiben; aber er fügt hinzu: „Wenn sie sich aber nicht enthalten können, sollen sie heiraten.“ In 1. Korinther 9,25 spricht er davon, dass ein Sportler, der nach dem Sieg strebt, äusserst enthaltsam sein wird.

Das entsprechende Adjektiv egkrates - beherrscht kommt nur einmal im NT vor. In Titus 1,8 wird gesagt, dass die Ältesten gastfrei, gütig, besonnen, fromm und enthaltsam sein sollen.

In der Septuaginta kommen diese Wörter auch nicht oft vor, aber die wenigen Beispiele geben einige Auskunft über ihre Bedeutung. Das Buch Sirach verwendet einen ganzen Abschnitt auf die Enthaltsamkeit: „Gib deinen Begierden nicht nach, und von deinen Gelüsten in dir halte dich zurück. Denn wenn du dir erlaubst, was deinen Begierden gefällt, so tust du, was deine Feinde freut. Vergnüge dich nicht bis zu ausgelassener Schwelgerei, die doppelt schnell zu Armut führt. Sei kein Säufer und Schlemmer, während du nichts im Beutel hast“ (Sirach 18,30-33). Dieser Abschnitt macht klar, dass egkrateia Selbstbeschränkung und Selbstbeherrschung in Bezug auf physische Vergnügungen zumindest einschliesst.

Das Verb egkrateyesthai kommt in der Septuaginta im Sinne von sich zusammennehmen, sich bezwingen vor. Als Joseph seine Brüder erkannte, war er sehr bewegt. Er zog sich zurück, um seine Rührung und seine Tränen zu verbergen. Dann wusch er sein Gesicht, ging wieder zu ihnen und hielt an sich (1. Mos. 43,31). Er verbarg und bezwang seine Erregung. Eine ähnliche Situation wird in Ester 5,9 geschildert. Haman gerät beim Anblick Mardochais in Zorn, aber er hält sich zurück, er bezwingt seinen Zorn.

In den Apokryphen, die ja eigentlich nicht zum AT gehören, wird egkrates oft gebraucht, aber fast nie im ethischen Sinne. Die ganze Wortfamilie hat als Stamm das Verb kratein - etwas festhalten, ergreifen. Daher kann egkrates einfach bedeuten in Besitz haben oder ergreifen (Tobias 6,3; Sirach 6,27; 15,1; 27,30 u. a.), Dieser Gebrauch von egkrates ist sehr interessant, denn wenn das Wort im moralisch-ethischen Bereich benutzt wird, beschreibt es die Kraft der Seele, durch die der Mensch sich selbst in den Griff bekommt, Besitz ergreift von sich und seinen Gefühlen, so dass er sich von aller bösen Begierde enthalten kann.

Im klassischen Griechisch gebraucht Platon egkrateia als moralischen und ethischen Wert. Er spricht von egkrateia als der Herrschaft über Freuden und Begierden (Staat 430e). In „Memorabilien“ berichtet Xenophon von Sokrates, dass dieser von allen Menschen am meisten Herr über Liebe und Begehren gewesen sei (1.2.1). Wie im Falle von praytes, so wird auch der Begriff egkrateia bei Aristoteles erschöpfend behandelt. Er oder vielleicht einer seiner Schüler befasst sich mit egkrateia in der Schrift „Tugenden und Laster.“ Hier heisst es, dass egkrateia eine Eigenschaft des begehrenden Teils unserer Seele sei (1.3). „Zu egkrateia gehört die Fähigkeit, die Begierde durch die Vernunft zu beschränken, wenn diese auf niedrige Freuden und Vergnügungen gerichtet ist, und immer stark und bereit zu sein, die Lust und die Qual, die uns die Natur bereitet, zu ertragen (5.1).

Auch in der „Eudemischen Ethik“ wird egkrateia behandelt. Hier beschreibt Aristoteles einen Menschen, der das Gegenteil von egkrates, nämlich akrates, ist. Er schreibt: Alle Schlechtigkeit macht den Menschen noch ungerechter, und der Mangel an Selbstbeherrschung scheint Schlechtigkeit zu sein. Der unbeherrschte Mensch wird nach seinem Verlangen, entgegen der Überlegung handeln. Er beweist Mangel an Beherrschung, wenn sein Tun von seinen Begierden bestimmt wird. So wird der unbeherrschte Mensch also Ungerechtes tun, indem er nach seinen Begierden handelt (2.7.6). Das Gegenteil von egkrateia ist das Handeln, das von Verlangen beherrscht wird, und ein Mensch, der egkrates ist, wird seinen Begierden wehren, über sein Handeln und sein Leben zu herrschen.

Die beste und interessanteste Erläuterung von egkrateia finden wir im siebten Buch der „Nikomachischen Ethik.“ Wiederum beschreibt Aristoteles den Menschen, der egkrates ist, indem er ihn mit dem Menschen, der akrates ist, vergleicht. Der erste beschränkt sich, so sagt er, der andere hingegen handelt hemmungslos (7.1.1). Mit diesen beiden Wörtern lässt sich der Begriff egkrateia erklären. Beide Wörter sind mit dem Verb kratein verbunden, das die Bedeutung von ergreifen, erfassen, festhalten und beherrschen hat. Der Mensch, der egkrates ist, hat sich in der Hand, in der Gewalt, während das bei dem, der akrates ist, nicht der Fall ist. Aristoteles spricht auch von den Dingen, die mit akrasia (Substantiv zu akrates) verbunden sind. Es ist verbunden mit malakia - Verweichlichung und mit tryphe - üppiger und sinnlicher Lebensgenuss (7.1.4). Andererseits wird es karteria gegenübergestellt, das unerschütterliche Standhaftigkeit und Ausdauer bedeutet.

Aristoteles fährt fort, indem er die wesentlichen Unterschiede zwischen bestimmten Charakter-typen feststellt. Der Mensch, der sofron ist, umsichtig und mässig, ist immer zurückhaltend und ausdauernd. Der Mensch, der akrates ist, tut falsche Dinge, aber er tut sie nicht vorsätzlich, sondern dann, wenn er dem augenblicklichen Verlangen und der Leidenschaft nicht widerstehen kann; er weiss, dass er falsch handelt, in einer Weise gegen seinen Willen und seine Einsicht. Die Begierde hat ihn gezwungen, in seinem Tun von dem abzuweichen, was vernünftig und gut ist. Der Mensch, der akolastos ist, handelt vorsätzlich falsch. Er ist so lasterhaft, dass er willentlich seinen Begierden folgt. Der Mensch, der egkrates ist, hat starke Begierden, die ihn vom Weg der Vernunft abbringen wollen, aber er hat sie unter Kontrolle (7.1.6,7; 7.2.6,7).

Auf welchen Bereich erstrecken sich nun aber diese Begierden und ihre Beherrschung? Es gibt zwei Arten von Freuden, die notwendigen und die nicht notwendigen. Die notwendigen Freuden sind die des natürlichen Instinktes; die nicht notwendigen Freuden sind Geld, Gewinn, Ehre und dergleichen mehr. Nun kann man sagen, dass ein Mensch unbeherrscht in seinem Verlangen nach Geld oder Ruhm ist, man wird deshalb aber nicht den ganzen Menschen als zügellos bezeichnen. Man wird den Bereich angeben, in dem er zügellos ist. Bezeichnet man aber einen Menschen als zügellos, so meint man, dass er in den körperlichen Freuden und Begierden hemmungslos ist (7.4.1-4).

Das ist das Wesentliche des Begriffes egkrateia. Es ist nichts anderes als Keuschheit. Keuschheit ist die eine vollkommene Tugend, die das Christentum in die antike Welt brachte. Egkrateia ist die Tugend, die ein Mensch besitzen wird, wenn Christus in seinem Herzen wohnt. Es ist die Tugend, die ihn befähigt, in dieser Welt zu leben, und sich doch selbst von der Welt unbefleckt zu erhalten.