Begriffe2-23: Praytes – Sanftmut

Fleisch oder Geist

William Barclay

 

Die achte Eigenschaft der Frucht des Geistes ist praytes (sprich: praütes) - Sanftmut. In unserem Denken und Sprachgebrauch ist Sanftmut keine sehr bewundernswerte Tugend. Sanftmut hat heute einen Beigeschmack von Schwachheit, Geistlosigkeit, Mangel an Kraft und Männlichkeit. Moderne Übersetzungen geben praytes mit Bescheidenheit wieder, aber auch das ist kein treffender Ausdruck für dieses griechische Wort. Im Laufe unserer Betrachtung werden wir sehen, dass es im Deutschen kein ebenbürtiges Wort dafür gibt. Wir werden auch feststellen, dass praytes eine Eigenschaft kennzeichnet, ohne die keine echte Andacht möglich ist, ja nicht einmal im praktischen Leben können wir ohne sie auskommen.

Praytes, das Substantiv, prays, das Adjektiv und praynein, das Verb sind Wörter, über die der allgemeine griechische Sprachgebrauch sehr viel Aufschluss gibt.
1. Sie werden für Personen oder Sachen gebraucht, die eine bestimmte beruhigende Eigenschaft besitzen. Sie kennzeichnen Worte, die einen Menschen, der von Zorn und Bitterkeit gegen das Leben erfüllt ist, besänftigen können. Sie bezeichnen eine Salbe, die den Schmerz einer eitrigen Wunde lindert. Sie werden für den zärtlichen Ton in der Stimme eines Verliebten angewandt. Einmal gebraucht sie Platon in „Gesetze“ für ein Kind, das den Arzt bittet, es so sanft wie möglich zu behandeln. Diese Wörter sprechen ganz allgemein von der Kraft zu lindern, zu besänftigen, zu beruhigen.

2. Sie kennzeichnen freundliches Betragen im Umgang mit anderen, vor allem von Leuten, in deren Macht es stünde, sich auch ganz anders zu verhalten. Sie werden für einen Tyrannen angewandt, der um die Menschen wirbt, indem er ihnen zuvorkommende Behandlung verspricht, wenn er an die Macht kommt. Der persische König Kyros wird als „freundlich und menschliche Fehler vergebend“ beschrieben, weil er sich gegen einen Offizier, der eine ihm aufgetragene Pflicht versäumte, freundlich verhielt. Xenophon bezeichnet mit diesen Wörtern die freundliche und geduldige Art, in der ein Offizier eine ungeschickte Gruppe von Soldaten ausbildet. Er gebraucht sie für die harte, aber doch freundliche Weise, in der ein Reiter ein feuriges Pferd trainiert. Platon wendet diese Wörter im Sinne der Höflichkeit und Freundlichkeit an, die in der Gesellschaft unerlässlich sind. Xenophon gebraucht sie für die Atmosphäre brüderlichen Verständnisses, das sich zwischen Soldaten entwickelt, die schon lange zusammen dienen, die zusammen gekämpft und gemeinsam Todesgefahren bestanden haben. Er nennt die Landwirtschaft die „sanfte Kunst“, weil hier die Menschen lernen, mit der Natur in ihren Kräften und Gaben zusammenzuarbeiten.

3. Sehr oft kennzeichnen diese Wörter die rechte Haltung und Atmosphäre in einer Diskussion. So zum Beispiel in „Der Staat“, wo Sokrates dem Thrasymachus dankt, dass er aufgehört hat zu schelten und freundlich geworden ist. Die Wörter werden angewandt für einen Menschen, der diskutieren kann, ohne die Geduld zu verlieren, ohne heftig zu werden.

4. Sie werden gebraucht, wenn jemand eine Sache leichtnimmt. Sokrates sagt, dass er Dinge, die für andere wertvoll scheinen mögen, nicht besonders ernst nimmt. Xenophon kennzeichnet mit diesen Wörtern einen Menschen, der von einer unangenehmen Erfahrung leichthin erzählt. Er gebraucht sie auch für den Gleichmut und die Mannhaftigkeit, mit denen Sokrates sein Todesurteil entgegennahm.

5. Häufig werden die Wörter auf gezähmte Tiere angewandt, die gelernt haben, sich einer bestimmten Ordnung zu unterwerfen. Ein Pferd, das dem Zügel folgt, ein Hund, der Befehlen gehorcht, sind prays.

6. Am kennzeichnendsten ist die Anwendung der Wortgruppe auf einen Charakter, der Kraft und Milde in sich vereint. Sehr treffend illustriert Platon das Substantiv praytes: Ein Wachhund, der sich Fremden gegenüber mutig und abwehrend verhält, aber Bekannten gegenüber, die er kennt und liebt, freundlich ist, besitzt praytes. Der Mensch ist wahrhaft gross, der gleichzeitig leidenschaftlich und sanft im höchsten Grade ist.

Prays ist das Wort, das Kraft und Milde in vollkommener Weise verbindet. Die beste Erklärung von praytes finden wir bei Aristoteles, wie wir später sehen werden. Untersuchen wir zunächst den Gebrauch dieser Wortgruppe in der Bibel.

In der Septuaginta ist praytes eine unschätzbare Eigenschaft in fast jedem Lebensbereich.
1. Praytes kennzeichnet die Haltung, in der ein Mensch seinen Mitmenschen begegnen und in der er seiner Tätigkeit nachgehen soll. „Neige dein Ohr dem Armen zu und erwidere seinen Gruss in Bescheidenheit“ (Sirach 4,8). „Wenn du reich bist, mein Sohn, wandle in Demut, so wirst du mehr geliebt werden, als wer Geschenke gibt. Bei aller irdischen Grösse bescheide dich, so findest du Gnade vor Gott“ (Sirach 3,17-18). „Zieh einher für die Wahrheit in Sanftmut und Gerechtigkeit, so wird deine rechte Hand Wunder vollbringen“ (Ps 45,5). Diese Stellen der Septuaginta deuten die Höflichkeit und das Zuvorkommen gegenüber den Menschen aller Schichten und Stände an; sie sind die Grundlage aller rechten Beziehungen.

2. Sanftmut wird oft dem Stolz gegenübergestellt. „Der Hochmütigen Throne hat Gott gestürzt und die Demütigen an ihre Stelle gesetzt“ (Sirach 10,14). Die Füsse der Armen und Geringen sollen die Hoffärtigen zertreten (Jes 26,5-6). Sanftmut ist das Gegenteil von Anmassung und Stolz.

3. Manchmal ist der Gegensatz noch grösser. Der Sanftmütige wird dem Sünder gegenübergestellt. Der Psalmist sagt: „Der Herr richtet die Elenden auf und stösst die Gottlosen zu Boden“ (Ps 147,6). Sanftmut ist nichts weniger als die grundlegende Eigenschaft, die den Menschen von der Sünde fernhält.

4. Wiederholt betrachtet die Septuaginta den Demütigen als einen Menschen, dem Gott besonders wohl gesinnt ist. „Den Demütigen offenbart er sein Geheimnis“ (Sirach 3,19). „Er leitet die Elenden recht und lehrt die Elenden seinen Weg“ (Ps 25,9).

5. Sehr oft wird im AT von der Erhöhung der Demütigen gesprochen. „Aber die Elenden werden das Land erben“ (Ps 37,11). „Wenn Gott sich aufmacht zu richten, dass er helfe allen Elenden auf Erden“ (Ps 76,10). „Der Herr hat Wohlgefallen an seinem Volk; er hilft den Elenden herrlich“ (Ps 149,4). „Der Herr richtet die Elenden auf und stösst die Gottlosen zu Boden“ (Ps 147,6).

6. Eine Stelle gibt es noch im AT, die uns helfen wird, die Bedeutung des Wortes zu verstehen. In 4. Mose 12,3 (Zürcherübersetzung) heisst es: „Der Mann Mose aber war sehr sanftmütig, mehr als irgendein Mensch auf Erden.“ Wie wir noch sehen werden, erhellt diese Tatsache, dass Mose als das Beispiel für Sanftmut hingestellt wird, die Bedeutung des Wortes praytes sehr.

Wir kommen nun auf den Gebrauch von prays und praytes im NT zurück. Das Substantiv praytes kommt hier elfmal und das Adjektiv prays viermal vor. Untersuchen wir zunächst weiterhin den Zusammenhang, in dem diese Wörter stehen, ohne die Begriffe selbst zu definieren. Wir wollen mit den Wörtern anfangen, die in Verbindung mit prays stehen.

1. Es steht in Zusammenhang mit agape - christliche Liebe. Paulus fragt die Korinther, ob er mit der Rute zu ihnen kommen soll oder mit Liebe und einem sanftmütigen Geist (1 Kor 4,21). Wir haben gesehen, dass agape unerschütterliches Wohlwollen und unbesiegbare Zuneigung ist, die sich niemals in Bitterkeit verwandeln wird und stets das Beste für den Menschen will, unabhängig davon, was dieser Mensch tun mag. Zwischen dieser Liebe und der Sanftmut besteht also ein Zusammenhang.

2. Es kommt in Verbindung mit epieikeia vor. Epieikeia ist vielleicht das am schwersten zu übersetzende Wort im NT. Es wird mit Freundlichkeit, Nachsicht, Milde übersetzt, bedeutet aber weit mehr als das. Aristoteles spricht von epieikeia als von der Eigenschaft, die gerecht, aber manchmal noch besser als Gerechtigkeit ist. Ein andermal spricht er von epieikeia als der Eigenschaft, die das Gesetz verbessert, wenn es scheitert, weil es zu allgemein ist. Es gibt Gelegenheiten, wo Milde und entgegenkommendes Verständnis besser sind als der Buchstabe des Gesetzes. Manchmal sind Entscheidungen zu treffen in einem Geist, der über das Gesetz hinausragt. Es gibt Umstände, in denen die genaue Anwendung des Gesetzes Unrecht wäre. Epieikeia ist die Eigenschaft, die sich im rechten Augenblick über das Gesetz hinwegsetzen kann, um an dem Menschen in Liebe und Barmherzigkeit zu handeln. In 2. Korinther 10,1 verbindet Paulus die beiden Wörter praytes und epieikeia und gebraucht sie für die Sanftmut und Freundlichkeit Christi. Praytes ist also mit dieser grossen Tugend verwandt, die erkennt, wann Gerechtigkeit zur Ungerechtigkeit wird und wann etwas Höheres an die Stelle des Gesetzes treten soll.

3. Mehr als einmal wird praytes in Verbindung mit Demut gebraucht. Demut ist charakteristisch für den Wandel eines Christen (Eph 4,2). Die Erwählten Gottes sollen Demut anziehen (KoI 3,12). Christus selbst ist von Herzen demütig (Mt 11,29). Praytes hat mit dieser Demut zu tun, die keine Anmassung, sondern nur Freude am Dienen kennt.

Betrachten wir nun die Wörter, die praytes gegenübergestellt werden.
1. Praytes wird strenger und angemessener Strafe entgegengesetzt. Wir haben bereits die Stelle erwähnt, wo Paulus die Korinther fragt, ob er mit der Zuchtrute oder mit Liebe und sanftmütigem Geist zu ihnen kommen soll (1 Kor 4,21). Praytes ist das Gegenteil der strengen Ordnung, die jeden nach Recht und Gesetz bestraft.

2. Praytes lässt sich nicht mit kämpferischem und streitsüchtigem Geist vereinbaren. In den Pastoralbriefen wird es als Pflicht des christlichen Verkündigers bezeichnet, seine Brüder zu erinnern, dass sie nicht zänkisch sein, sondern Sanftmut gegen alle Menschen beweisen sollen (Tit 3,2). Praytes ist das Gegenteil der aggressiven Einstellung, die einen Menschen auf Kriegsfuss mit seinen Mitmenschen leben lässt.

Welche Rolle spielt praytes nun im Leben des Christen? Wir werden feststellen, dass es eines der Wesensmerkmale des christlichen Lebens ist.
1. Praytes ist die Einstellung, die man zum Lernen braucht. In Sanftmut soll der Mensch das Wort annehmen, das ihn selig machen kann (Jak 1,21). Es ist die Haltung, die den Menschen seine eigene Unwissenheit erkennen lässt, die ihn demütig genug macht zu erkennen, dass er nichts weiss, die seinen Geist für die Wahrheit und sein Herz für die Liebe Gottes öffnet.

2. Praytes ist der Geist, der mit Disziplin übt, wie die Fehler anderer kritisiert werden können. Paulus ermahnt die Galater, dem in sanftmütigem Geist zurecht zu helfen, der von einem Fehler übereilt wird (Gal 6,1). Man kann einen Menschen in einer Art kritisieren, die ihn vollkommen entmutigt, die ihn zu Niedergeschlagenheit und Verzweiflung treibt. Man kann ihn aber auch so kritisieren, dass er sich fest vornimmt, besseres zu leisten und auch wirklich hofft, besser zu werden. Praytes ist die Einstellung, die Kritik zum Anreiz macht und nicht zu etwas Niederschmetterndem, zu einem Mittel, das neue Hoffnung weckt und nicht verzweifeln lässt.

3. Praytes ist der Geist, in dem man einer Opposition begegnen soll. Der christliche Lehrer soll Widerspenstige mit sanftmütigem Geist zurechtweisen (2 Tim 2,25). Nur zu oft wollen wir die, die nicht mit uns übereinstimmen, die anderer Meinung sind als wir und deren Ansichten wir für falsch halten, zwingen, ihre Meinung zu ändern. Illustrieren wir diese Einstellung mit einem Beispiel: Nehmen wir an, dass wir an einem bitterkalten Wintertag einen Raum betreten, dessen Fensterscheiben auf der Innenseite dick mit Eisblumen bedeckt sind. Zwei Möglichkeiten bieten sich uns, das Eis zu entfernen. Wir können versuchen, es weg zu reiben; aber je fester wir reiben, desto schneller wird sich wieder neues Eis bilden. Wir können aber auch Feuer im Ofen machen, und das Eis auf der Fensterscheibe wird ganz von selbst wegschmelzen. Hitze vollbringt hier, was Reibung nicht schafft. Im Verkehr mit Menschen, deren Ansichten wir für falsch halten, wird Sanftmut das vollbringen, was Zwang niemals schaffen wird.

4. Praytes ist der Geist christlichen Zeugnisses. Petrus fordert die Gläubigen auf, allezeit bereit zu sein, sich vor jedermann wegen ihres Glaubens zu verantworten, aber mit Sanftmut und Gottesfurcht (1 Petr 3,15). Ein wirklich christliches Bekenntnis geschieht immer in Freundlichkeit; es ist damit viel wirksamer als ein Bekenntnis, das anderen etwas aufzuzwingen versucht. Das Bekenntnis des Christen muss gewinnend und kraftvoll sein.

5. Praytes ist der Geist, von dem das ganze Leben eines Christen durchdrungen sein soll. Der Weise und Kluge zeigt mit seinem guten Wandel seine Werke in Sanftmut (Jak 3,13). Der wirkliche Schmuck im Leben der christlichen Frau, der wertvoll vor Gott ist, ist ein sanftmütiger und stiller Geist (1 Petr 3,4). Solcher Geist ist vor Gott und den Menschen lobenswert.

Noch zwei Dinge sind über den neutestamentlichen Gebrauch von praytes zu sagen:
1. Praytes ist mehr als Freundlichkeit und Sanftmut. Es ist das Geheimnis der Macht und des Sieges, denn die Sanftmütigen werden das Erdreich besitzen (Mt 5,5). Praytes macht einen Menschen zum König unter seinen Mitmenschen.

2. Schliesslich ist hervorzuheben, dass diese Tugend in Verbindung mit Jesus selbst gebraucht wird. Jesu eigene Aufforderung war: „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig …“ (Mt 11,29). Sein triumphaler Einzug in Jerusalem war die Erfüllung folgender Prophezeiung: „Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel …“ (Sach 9,9; Mt 21,5). Paulus mahnt die widerspenstigen Korinther bei der Sanftmut Christi zum Gehorsam (2 Kor 10,1). Sanftmut ist ein Wesensmerkmal Christi selbst.

Am Anfang unserer Untersuchung haben wir bereits festgestellt, dass die Übersetzung von praytes als Sanftmut oder auch Bescheidenheit nicht die ganze Bedeutung des Wortes trifft. Wir haben auch gesagt, dass die beste Erläuterung des Begriffes bei Aristoteles zu finden ist. Diese Definition wollen wir nun betrachten.

In der kleinen Schrift „Tugenden und Laster“, die in Aristoteles Werken enthalten ist, aber eigentlich nicht vom ihm selbst stammt, wird gesagt, dass praytes und Mut zur leidenschaftlichen Natur des Menschen gehören (1.3). Weiter wird festgestellt, dass praytes der gute Teil dieser leidenschaftlichen Natur ist, und dass der Mensch durch den Besitz dieser Eigenschaft nicht leicht zum Zorn zu bewegen ist (2.2). Dann kommt die vollständigere Definition: „Zu praytes gehört die Fähigkeit, alle Beleidigungen und Erniedrigungen ruhig zu ertragen, ohne sich gleich rächen zu wollen und ohne sich leicht zum Zorn reizen zu lassen, sondern frei von Bitterkeit und Streitsucht zu sein und Ruhe und Gelassenheit zu bewahren“ (4.3). Jetzt kann man sich unter praytes schon viel mehr vorstellen.

Die „Eudemische Ethik“ befasst sich auch mit praytes. Hier wird gesagt, dass das Gegenteil von praytes Zorn und Leidenschaft ist (2.5.9). Weiter hinten in diesem Werk kommt eine bessere, sehr einleuchtende Erklärung. Jähzornig zu sein ist falsch, und sklavische Unterwürfigkeit zu zeigen ist genauso falsch. „Weil diese beiden Charaktereigenschaften falsch sind, ist es klar, dass die Eigenschaft dazwischen richtig sein muss, weil sie in ihrer Leidenschaft weder zu schnell noch zu langsam ist; weil sie mit den Menschen nicht zornig ist, mit denen sie es nicht sein soll, und weil sie es nicht versäumen wird, zornig mit denen zu sein, die es verdienen“ (3.3.4). Der Mensch, der prays ist, steht zwischen dem unterwürfigen und dem harten Menschen.

Am ausführlichsten wird praytes in der „Nikomachischen Ethik“ erklärt. Bei Aristoteles ist jede Tugend der Mittelweg zwischen zwei Extremen. Auf der einen Seite ist das Extrem des Überflusses, auf der anderen Seite das des Mangels, und zwischen diesen beiden liegt die goldene Mitte. Aristoteles sagt, dass praytes die Mitte ist zwischen orgilotes - hemmungslosem Zorn und aorgesia - übertriebener Gleichgültigkeit. Praytes ist das richtige Mass zwischen zu viel und zu wenig Zorn. Der Mensch, der prays ist im Umgang mit seinen Mitmenschen, wird genau das richtige Mass an Zorn finden (2.7.10). Weiter sagt Aristoteles, dass praytes der richtige Gebrauch dieses ausgewogenen Masses von Zorn ist. Der Mensch, der prays ist, ist zornig „am rechten Ort, gegen die richtige Person, in der richtigen Art, im richtigen Augenblick und in der richtigen Dauer.“ Aber immer wird er eher in der Richtung zur Vergebung hin als in der Richtung zum Zorn hin fehlen (4.5.1-4). Der Mensch, der prays ist, wird also stets zur rechten Zeit und niemals zur falschen Zeit zornig sein.

Das ist auch der Grund, warum Mose das grosse Vorbild von praytes ist. Er war kein Mann ohne Rückgrat. Das Zitat „so sanft wie Mose“ wird ganz falsch angewandt. Mose war ein Mann, der glühenden Zorn haben konnte, wenn es nötig war, der aber auch demütig und unterwürfig war, wenn Demut am Platz war. Kein geistloses, schwaches Wesen ohne Rückgrat hätte ein Volk führen können wie Mose es tat. Er hatte beides, Kraft und Sanftmut. Und was auf Mose zutraf, gilt erst recht für Jesus Christus, denn bei ihm finden wir gerechten Zorn und vergebende Liebe. Nur ein Mann, der prays war, konnte den Tempel von den Krämern und Wechslern säubern und einer Frau, die im Ehebruch ertappt wurde, vergeben, während die Gesetzesstrengen sie verdammten.

Die eigentliche Bedeutung von praytes ist Selbstbeherrschung. Es ist die vollkommene Beherrschung unserer leidenschaftlichen Natur. Nur wenn wir praytes besitzen, können wir alle Menschen wirklich zuvorkommend behandeln, nur dann können wir ohne Bitterkeit ermahnen, ohne Intoleranz diskutieren, nur dann können wir die Wahrheit ohne Empörung ertragen, zornig sein ohne zu sündigen, sanftmütig und doch nicht schwach sein.

Es ist klar, dass kein Mensch diese Beherrschung aus sich selbst gewinnen kann. Die Leidenschaften zerreissen die Zügel und sind zu stark für die Vernunft und den Willen, die sie in Scham halten könnten. Gerade deshalb ist praytes ein Teil der Frucht des Geistes, denn diese Selbstbeherrschung kann nur erreichen, wer von Gott und seinem Geist beherrscht wird. Praytes ist die Macht, durch die wir mit der Hilfe des Geistes Gottes die starke und unbezähmbare Kraft der Leidenschaften für den Dienst für Gott und an den Menschen nutzbar machen können.