Begriffe1-08: Epieikes – mehr als Gerechtigkeit

Griechische Begriffe 1

8.  Epieikes = Milde

von William Barclay

 

Wir werden nicht mit der Übersetzung von epieikes beginnen aus dem einfachen Grund, weil sie ausserordentlich schwer ist. Das Adjektiv epieikes kommt fünfmal im NT vor und das Substantiv epieikeia zweimal. In diesen sieben Stellen benutzt die Pattloch-Bibel sechs verschiedene Wörter, Luther versucht den Sinn mit zwei Ausdrücken wiederzugeben. Im Phil 4,5, wo das Neutrum des Adjektivs als Substantiv gebraucht wird, übersetzt die Pattloch-Bibel Edelsinn, in 1 Tim 3,3 gütig, in Tit 3,2 nachgiebig, dem Guten hold und in 1 Petr 2,18 freundlich. In Apg 24,4 und in 2 Kor 10,1, wo beide male das Substantiv benutzt wird, sagt dieselbe Übersetzung einmal Güte und zum andern mal Milde. In Phil 4,5 hat Luther Lindigkeit übersetzt, in 1 Tim 3,3; Tit 3,2; Jak 3,17 und 1 Petr 2,18 gelinde, in Apg 24,4 und 2 Kor 10,1 Geneigtheit und Lindigkeit. Die Zürcher-Bibel dagegen zeigt mehr Übereinstimmung. Das Substantiv wird jedes Mal mit Freundlichkeit und das Adjektiv jedes mal mit freundlich wiedergegeben.

Das Wort kommt sehr oft in den ethischen Schriften der Griechen vor, lange ehe es im NT benutzt wurde. Trench fasst die Bedeutung zusammen, wenn er sagt, dass es die „Mässigung ausdrückt, die die Begrenztheit des formellen Gesetzes erkennt.“ Er sagt, dass es Fälle gibt, in denen das „legale“ Recht zum „moralischen“ Unrecht werden kann. Aristoteles diskutiert das Wort epieikeia in „Nikomachische Ethik“ (10). Danach ist epieikeia das, was gerecht und das, was manchmal besser ist als Gerechtigkeit. Er sagt, dass epieikeia das Gesetz korrigiert, wenn sich dieses als unzulänglich erweist, da es ja nur generell reden kann. Er vergleicht einen Menschen, der epieikes ist, mit einem, der akribodikaios ist. Letzterer tritt für das letzte Tüpfelchen seiner gesetzlichen Rechte ein. Aber ein Mensch, der epieikes ist, weiss, dass manchmal etwas nach dem Gesetz durchaus gerecht und trotzdem moralisch völlig verkehrt sein kann. Ein Mensch, der epieikes ist, weiss, wann das Gesetz unter dem Zwang einer Macht gemildert werden muss, die höher und grösser ist als das Gesetz. Er weiss, wann es vollkommen unchristlich wäre, auf seinem Recht zu bestehen.

Wesentlich und grundlegend an epieikeia ist, dass diese Eigenschaft auf Gott zurückgeht. Wo wären wir, wenn Gott auf seinem Recht bestünde; wenn Gott nur den unbeugsamen Massstab des Gesetzes an uns anlegen würde? Gott selbst ist das beste Beispiel für die segensreiche Anwendung von epieikeia.

Es mag schwer sein, dieses Wort zu übersetzen, aber es ist nicht schwer, die dringende Notwendigkeit dieser Eigenschaft einzusehen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der jeder auf seinen gesetzlich verankerten Rechten besteht, wo jeder nur tun will, wozu er ausdrücklich verpflichtet ist, in der man bestrebt ist, dem anderen soviel wie möglich aufzuzwingen. Wie oft schon haben wir Gemeinden gesehen, die durch Streit zerrissen waren und bitter darunter zu leiden hatten, dass Gemeindeglieder, Ausschüsse und Gerichte auf dem Buchstaben des Gesetzes bestanden. Es würde in allen Bereichen der menschlichen Gesellschaft, einschliesslich der Gemeinden des Herrn, eine neue Zeit anbrechen, wenn die Menschen aufhörten, sich nur auf das Gesetz und ihre garantierten Rechte zu berufen und anfingen, Gott um epieikeia zu bitten.