Zeichen und Wunder
Wunderereignisse
Es ist schwierig, die Anzahl der Wunder im NT genau zu bestimmen. Viele Ereignisse können als gewöhnliche Naturereignisse erklärt werden. Ein gutes Beispiel ist die Münze, die Petrus im Maul eines Fisches fand (Mt 17,24-27). Das ist nichts Aussergewöhnliches, da jeder Fischer weiss, dass man im Maul oder Magen eines Fisches alle möglichen Objekte finden kann. Trotzdem zählt es zu den Wundern des NTs, weil Jesus dies vorausgesagt hatte und Petrus die Münze tatsächlich fand.
Ein weiteres Wunder, das die natürlichen Gesetze Gottes nicht ausser Kraft setzt, ist der grosse Fischfang der Jünger, auf dem See Genezaret (Lk 5,1-11; Joh 21,1-11). Nachdem Petrus die ganze Nacht eifrig gefischt hatte, konnte er keinen einzigen Fisch aus dem Wasser ziehen. Doch Jesus forderte seine Jünger auf, das Netz auf der rechten Seite des Bootes auszuwerfen. Da fingen sie eine so grosse Menge, dass das Netz zum Bersten voll war. Auch dieses Ereignis könnte von vielen abgelehnt werden, weil es sich nicht um ein übernatürliches Wunder handelt. Es gibt günstigere und ungünstigere Zeiten zum Fischfang, das weiss jeder Fischer. Aber die Tatsache allein, dass Jesus dies vorhersagte, bestätigt, dass dieses Ereignis göttlichen Ursprungs war und auch wegen der Grösse des Fangs als Wunder anerkannt werden muss (Lk 5,8-9).
Im Neuen Testament berichten einige Stellen von Wunderkräften, die bestimmten Menschen verliehen wurden. Wir erfahren aber nicht, wann und wie sie eingesetzt wurden.
Es gibt zwei Listen von Geistesgaben, die von Gott durch den Heiligen Geist übermittelt wurden (1Kor 12,8-10.28-30). Insgesamt werden vierzehn dieser Gaben aufgelistet. Ein Teil ist eindeutig übernatürlicher Art, während ein anderer Teil nicht unbedingt übernatürlich ist. Die Gabe der Heilung, Wunderkräfte, die Unterscheidung der Geister, die Sprachenrede und ihre Auslegung erfordern Kenntnisse oder Fähigkeiten, die über die natürlichen Möglichkeiten des Menschen hinausgehen. Sie sind nur durch das direkte Einwirken Gottes möglich. Daher können sie als Wunder anerkannt werden.
Hingegen, nicht unbedingt übernatürliche Wunderkräfte sind: Weisheitsreden, Erkenntnisreden, Glauben, prophetische Reden, Hilfeleistungen, Leitungsaufgaben der Hirten und Lehrer erfordern keine besonderen Wunderkräfte. Sie existieren bereits in Gottes natürlicher Ordnung und könnten einem Menschen zugewiesen worden sein, der diese natürlichen Gaben zu wenig oder gar nicht besass. Eine solche Zuweisung wäre dann übernatürlich.
Paulus betont im ersten Korinther 12, dass diese Geistesgaben Wunderkräfte sind, die nicht jeder Gläubige in gleichem Mass besitzt. Sie können zum Teil auch auf natürlichem Weg erworben werden. Wer aber eine dieser Gaben nicht besass und sie ihm von Gott zusätzlich geschenkt wurde, empfing eine besondere Geistesgabe. Diese Geistesgaben der Korinther brachten Wunder hervor, die aber nicht zu den übernatürlichen Wundern des Neuen Testament gezählt werden.
Dann gibt es Ereignisse, die eindeutig auf inspiriertes Wissen und Voraussicht zurückzuführen sind, die nicht in die Wunderlisten aufgenommen wurden. Dinge zu wissen, die über das natürlich erworbene Wissen hinausgehen und Geschehnisse vor ihrer Zeit vorhersagen, hat eindeutig mit göttlichen Wundern zu tun. Das Leben Jesu und das Wirken der Apostel sind mit dieser Art von Wundern eng verbunden, so dass es schwierig wäre, jedes einzelne Ereignis zu identifizieren und entsprechend aufzulisten.
Jesus kannte zum Beispiel Nathanaels Gedanken, als dieser unter dem Feigenbaum sass (Joh 1,45-50). Dieses inspirierte Wissen war für Nathanael ein ausreichendes Zeichen, dass er erklärte: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes; du bist der König Israels.“ Diese Vorhersehung Jesu war ein Teil seines göttlichen Wesens.
Johannes beschreibt in seinem Evangelium einen weiteren Fall (Joh 2,24-25): „Jesus selbst aber vertraute sich ihnen nicht an. Er kannte sie alle und brauchte von niemandem ein Zeugnis über den Menschen, denn er wusste, was im Menschen war.”
Ein weiteres Beispiel ist Agabus der wusste, dass Paulus in Jerusalem inhaftiert werden würde (Apg 21,10-11). Der Zusammenhang zeigt, dass dies nicht nur eine Vermutung war, sondern eine göttliche Vorhersage. Solche Ereignisse werden nicht unter den Wunderlisten aufgeführt. Sie sind auch Wunder, die von Gottes Macht gewirkt wurden, um Menschen mit ihrer göttlichen Botschaft zu bestätigen.
Die gesamte neutestamentliche Literatur beinhaltet einige Wunder, die nicht in die Liste der Wunder aufgenommen wurden. Johannes berichtet über das erste Wunder Jesu bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa (Joh 2,1-11), danach werden weitere Zeichen erwähnt.
Die meisten Wunder, die Jesus tat, werden im Johannesevangelium nicht einmal erwähnt. Deshalb fasst Johannes am Ende seines Evangeliums die Zeichen Jesu zusammen (Joh 20,30-31; 21,25): „Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind. Diese hier aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und dadurch, dass ihr glaubt, Leben habt in seinem Namen ... Es gibt aber noch vieles andere, was Jesus getan hat. Wollte man das alles, eins ums andere, aufschreiben, so würde meines Erachtens die ganze Welt die Bücher nicht fassen, die dann zu schreiben wären.”
Die Wunder Jesu
Die Wunder Jesu könnten in folgende Rubriken unterteilt werden:
Siebzehn körperliche Heilungen;
neun Wunder über Naturgewalten;
sechs Heilungen von Dämonen;
drei Auferweckungen von Toten.
Insgesamt können fünfunddreissig Wunder Jesu aufgelistet werden. Es gibt aber noch viele allgemeine Hinweise auf Wunder, die Jesus wirkte (Mt 4,23-24; 9,35; 15,30-31; 19,1-2; Mk 1,32-34; 6,53-56; Lk 4,40; 5,15-16; 6,17-19; 7,21-23; Joh 2,23; 3,1-2; 4,45; 20,30; 21,25). Die folgende Auflistung ist als Überblick gedacht.

Unterschiedliche Wundererzählungen
Die verschiedenen Schreiber der vier Evangelien erzählen die Wunder unterschiedlich.
Matthäus, der einen rabbinisch-jüdischen Hintergrund hat, verwendet seine Wunderzählungen, um Jesus als den alttestamentlichen Messias und die Erfüllung der Heiligen Schriften zu bestätigen. Jüdische Leser waren für diesen Ansatz besonders empfänglich.
Markus ist eher pragmatisch, handlungsorientiert und erzählt Wunder, um die göttliche Macht und Autorität der Person Jesu zu bestätigen. Der römische Leser war für diesen Ansatz besonders empfänglich.
Lukas, der Arzt, hat eine griechische Literaturkultur und erzählt seine Wunder, um Jesu Wirken als Erfüllung der alttestamentlichen Prophezeiungen und als Zeichen des Reiches Gottes zu bestätigen. Gebildete griechische Leser waren für diesen Stil und diese Sprache sehr empfänglich.
Johannes fand in seinen Wundererzählung eine symbolische Bedeutung. Er benutzte sie, um sein erklärtes Ziel zu erreichen, „damit ihr glaubt“ (Joh 20,31). Der jüdische Leser, der in Symbolen der apokalyptischen Literatur gefangen war, fühlte sich besonders angezogen. Auch die Leser, die sich von Symbolen der griechischen Religionen angezogen fühlten, waren für diesen Ansatz besonders empfänglich.
Die Apostelgeschichte kann in Bezug auf die Wunder mit dem Lukasevangelium verglichen werden. Im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte spricht Lukas vom Pfingst-wunder, um zu zeigen, dass sich die alttestamentlichen Schriften erfüllten (Apg 2,13) und dass sie ein Zeichen für das gekommene Reich Gottes waren (Apg 2,33).
Wunder waren nicht mehr nötig, um die Verkündiger und ihre Botschaft von Gott beglaubigen zu lassen. Die Bibel war durch die inspirierten Dokumente abgeschlossen und der Glaube „ein für allemal” überliefert. Der Zweck der Briefe bestand nicht darin, neue göttliche Offenbarungen zu verkünden, die durch Zeichen und Wunder bestätigt werden mussten. Die Leser wurden vielmehr an das Evangelium Christi erinnert. Nun ging es darum, ihren Lebenswandel durch den Geist Gottes verändern zu lassen. Die Menschen, die durch die Handauflegung der Apostel eine besondere Geistesgabe empfingen, starben immer mehr aus. Die Wunderkräfte konnten nicht weiter übertragen werden. So nahmen Wunder immer mehr ab und waren nicht mehr wichtig.
Der Rückgang der Wunder
Vom Beginn des Wirkens Jesu bis zum Ende des neutestamentlichen Kanons ist ein deutlicher Rückgang der Wundererzählungen festzustellen. Die Synoptiker als auch Johannes sind voll von Hinweisen auf Wunder. Jesus demonstrierte seine Macht über die Natur, über Krankheiten, über Dämonen, über die Sünde und über den Tod. Eine Zusammenfassung seines Wirkens finden wir bei Matthäus.
Matthäus 4,23-24: „Und er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in ihren Synagogen, verkündigte das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen im Volk. Und die Kunde von ihm verbreitete sich in ganz Syrien. Und man brachte alle Kranken zu ihm, von den verschiedensten Gebrechen und Beschwerden Gezeichnete: Besessene, Mondsüchtige und Gelähmte; und er heilte sie.”
Im ersten Teil der Apostelgeschichte standen die Wunder noch im Vordergrund. Es gab übernatürliche Phänomene, wie das Zerteilen von Zungen, die wie Feuer aussahen und Geräusche, wie das Rauschen eines starken Windes, verursachten. Die Apostel sprachen inspirierte Worte, nicht aus menschlicher Erkenntnis heraus, sondern so, „wie der Geist es ihnen eingab” (Apg 2,1-4). Später redeten auch Heiden in nie erlernten Sprachen (Apg 11). Da fand die Heilung eines Gelähmten statt (Apg 4). Es gab mehr als eine Befreiung aus der Gefangenschaft und eine Vielzahl von Zeichen, die von den Aposteln gewirkt wurden. Wir lesen von Wundern in Samarien, Cäsarea, Damaskus und auf den Reisen des Paulus. Doch im Laufe der Zeit nahmen die Wunder in der Apostelgeschichte ab.
In den Briefen ist ein noch deutlicherer Rückgang der Wunder zu beobachten. Paulus wies sogar auf den Missbrauch der Wundergaben hin (1Kor 12-14). Er sprach vom begrenzten Zweck und von der begrenzten Dauer der Wunder (1Kor 13,8ff und Eph 4,8-13). Spezifische Hinweise auf neue Wunder werden immer seltener. Es gibt Hinweise auf Wunder in der Vergangenheit (2Kor 12,12). Wir lesen über nicht geheilte Krankheiten (Phil 2,25-28) und nicht gelinderte Leiden (2Kor 12,7-10), aber keine Wunderheilungen, wie sie Jesus vollbrachte. Es wird vielmehr vor falschen Propheten mit falschen Zeichen gewarnt (2Thess 2,8-12; 1Joh 4,1-2). Von den früheren bis zu den späteren Briefen scheint es einen Rückgang der Wunder zu geben.
Dieses Phänomen des Rückgangs kann folgendermassen erklärt werden:
Es besteht ein grosser literarischer Unterschied zwischen den Evangelien, der Apostelgeschichte und den Briefen. Eine apostolische Schrift, die sich mit Problemen in der Gemeinde von Gläubigen auseinandersetzt, braucht keine bestätigenden Zeichen. In den Evangelien ist vom Leben und Wirken Jesu die Rede, der bestätigende Zeichen brauchte, um die Menschen von der Erfüllung der Zeit zu überzeugen (Gal 4,4-5).
Der theologische Stil der Briefe eignet sich nicht, um von Wunderereignissen zu berichten. Die geschichtlichen Ereignisse in den Evangelien und die polemische Verkündigung in der Apostelgeschichte eignen sich viel besser, um von Wundern zu berichten.
Vielleicht ist der Rückgang der Wunderereignisse in den Gemeinden der beste Beweis. Als die Dokumente des Neuen Testaments fertiggestellt wurden und die Apostel samt ihren engsten Mitarbeitern verstarben, war der Zweck der Wunder erfüllt. Im Hebräerbrief spiegelt sich dieser Gedanke wider.
Hebr 2,3-4: „... wie werden dann wir entrinnen, wenn wir so grosses Heil missachten? Dieses nahm seinen Anfang mit der Verkündigung durch den Herrn und wurde uns von denen, die sie hörten, verlässlich weitergegeben und zugleich von Gott bestätigt durch Zeichen und Wunder und vielerlei machtvolle Taten und Gaben, die der heilige Geist nach seinem Willen austeilt.”
Dieser Abschnitt zeigt eine Entwicklung. Zuerst verkündigte Jesus. Dann wurde die Botschaft aufgeschrieben und von denen bestätigt, die sie hörten und daran glaubten. Schliesslich bezeugte Gott diese Botschaft mit Zeichen, Wundern und machtvollen Taten.
Die Botschaft von Mose und den Propheten brauchte in der Zeit des Neuen Testaments keine weitere Bestätigung durch Jesus und die Apostel. Sie wurden bereits durch die von Mose und den Propheten gewirkten Wunder bestätigt. Wenn eine Sache einmal bestätigt ist, muss sie nicht in jeder Generation immer wieder neu bestätigt werden.
Der Rückgang der Wunder von den frühen bis zu den späteren Zeiten des Neuen Testaments lässt sich am besten dadurch erklären, dass die Notwendigkeit der Bestätigung eines Wunders nicht mehr gegeben war.
Schlussfolgerung
Mit den Wundern verhält es sich wie bei einem Neubau von einem Haus. Solange die Mauern in die Höhe gebaut werden, braucht es ein Gerüst. Solange die Mauern in die Höhe gebaut werden, braucht es ein Gerüst. Sobald aber das Haus vollendet ist, ist kein Gerüst mehr nötig. Nachdem die Heiligen Schriften vollendet waren, waren keine weiteren Zeichen und Wunder mehr nötig.
Die Bibel wurde von Hebräern geschrieben (ausser Lukas, der das Evangelium und die Apostelgeschichte schrieb). Das Heil wurde zuerst den Juden verkündet, dann dem Rest der Welt (Joh 4,22; Apg 17,46). Jesus war ein Jude und die Ereignisse in den Evangelien spielten sich in Israel ab. Den Juden musste verständlich gemacht werden, dass die Zeit endlich erfüllt war, in der der von den Propheten verheissene Messias auftreten würde (Mt 1,22).
Diese besondere Zeit war eine wichtige Übergangsphase zwischen dem Alten- und dem Neuen Bund und brachte für den jüdischen Glauben grundlegende Veränderungen (Gal 2,28-29). Viele Juden taten sich schwer mit den Veränderungen des Heilsplans Gottes, deshalb haben sie auch ihren Glaubensbruder Jesus ans Kreuz ausgeliefert (Joh 19). Auch Paulus musste zuerst eine Erscheinung Jesu erfahren, um endlich einzusehen, dass er die Nachfolger Christi nicht verfolgen sollte (Apg 9). Viele Zeichen und Wunder geschahen unter den Juden, damit sie verstanden, dass Gott einen neuen Bund schuf, der für Juden und Heiden gedacht war (Jer 31,31-34).
Je mehr sich das Evangelium in alle Welt ausbreitete, so dass Unbeschnittene den Glauben an Jesus annahmen, desto weniger waren Zeichen und Wunder nötig, sondern nur noch das schriftlich überlieferte Wort Gottes.