Begriffe1-16: Kaleo – der Ruf Gottes

Griechische Begriffe 1

16.  Kaleo = Rufen

von William Barclay

 

Einer der fundamentalen Begriffe des Neuen Testaments ist der des Rufes Gottes an die Menschen. Mit diesem Begriff haben die vorstehenden drei Wörter zu tun. Das Verb kalein bedeutet rufen; klesis ist das Substantiv und bedeutet ein Ruf; das Adjektiv kletos meint berufen.

Im klassischen Griechisch fand kalein oder kalein (ich rufe) vier hauptsächliche Anwendungen, von denen uns alle ein besseres Verständnis des neutestamentlichen Ausdrucks vermitteln können.

1. Kalein ist das gebräuchliche Wort für: eine Person oder einen Ort mit Namen nennen. So finden wir in Mt 1,21.23.25, dass der Messias Jesus genannt wird. In Mt 5,9 werden die Friedensstifter Söhne Gottes genannt. In Mt 23,7 lesen wir, dass die Pharisäer sich gerne Rabbi nennen liessen. Auf diese Weise wird kalein am häufigsten gebraucht.

2. Kalein ist das reguläre Verb für: eine Person auffordern oder rufen. Man kann jemand in ein Amt rufen. Paulus wurde zum Apostel berufen - kletos (Röm 1,1; 1 Kor 1,1). Man kann jemand rufen, um ihm eine Aufgabe zu geben. In Mt 25,14 werden die Knechte gerufen, um die Güter ihres Herrn während dessen Abwesenheit zu übernehmen (vgl. Lk 19,13). Es kann sein, dass jemand gerufen wird, um einen Lohn für seine Arbeit zu empfangen oder darüber Bericht zu erstatten (Mt 20,8).

3. Kalein wird auch allgemein angewandt, um jemand zu einem Essen oder Fest einzuladen oder um Gast in einem Hause zu sein. In diesem Sinne wird es auch benutzt, um die Gäste zur Hochzeit einzuladen (Mt 22,3). Es wird im Zusammenhang mit dem Pharisäer Simon gebraucht, der Jesus zu einem Mahl in sein Haus geladen hatte (Lk 7,39). Dasselbe Wort benutzt Lukas in Kap. 14,8. Mit dem gleichen Wort wird in Offb 19,9 zum Abendmahl des Lammes geladen.

4. Kalein wird auch allgemein benutzt, um jemand vor Gericht zu laden; auch um einen Zeugen oder einen Verteidiger vor den Richter zu zitieren. Im NT werden Petrus und Johannes mit diesem Wort vor den Hohen Rat (Apg 4,18) und Paulus vor Felix gerufen, um den Anklägern gegenübergestellt zu werden (Apg 24,2).

Selbst wenn wir die Untersuchung dieser Wörter nicht weiter fortsetzen würden, hätten wir doch schon eine Fülle von Erkenntnissen über die Bedeutung dieses Rufes an den Menschen gewonnen. Mindestens vier Punkte können wir hier festlegen.

1. Der Christ ist ein Mensch, der den Ruf Gottes hört. Es ist das Wesen des Rufes, dass er entweder eine Aufforderung oder eine dringende Bitte darstellt. Ein Mensch kann ihn entweder annehmen oder ablehnen, er kann ihn beachten oder missachten, er kann darauf hören oder sich taub stellen. Das Wort legt uns die ungeheure Verantwortung auf, der Stimme Gottes zu antworten.

2. Des Christen Leben ist eine Berufung zum Dienst. Stets ist der Christ zu einer Aufgabe gerufen. Es ist Gott, der ihm immer eine Aufgabe stellt. In Ciceros Staat (1.20) wird an Laelius die Frage gerichtet: „Was denkst du denn, was wir die Leute, die wir auszubilden haben, lehren sollen?“ Die Antwort ist: „Wir haben sie die Künste zu lehren, durch die sie dem Staat nützlich sind.“ Der Ruf Gottes ist eine Aufforderung an den Christen, in dieser Welt von Nutzen zu sein.

3. Gott ruft uns zu einem Vorrecht. Kalein und klesis sind eng verbunden mit der Einladung zu einem Fest oder in ein gastliches Haus. Der Ruf Gottes ist die Aufforderung, in seine Gemein-schaft zu treten und in dieser Gemeinschaft vollkommene Freude zu empfangen.

4. Der Ruf Gottes ist auch ein Ruf zum Gericht. Kalein und klesis sind ebenso eng verbunden mit der Aufforderung, vor Gericht zu erscheinen. Das Christenleben endet nicht irgendwo, sondern führt uns vor den Richtstuhl Gottes. Wenn ein Mensch den Ruf Gottes missachtet, wenn er der Aufforderung zum Dienst gegenüber taub ist, die Einladung Gottes verachtet, wird er dafür bei dem letzten Ruf Gottes einmal Rechenschaft ablegen müssen.

Die Verbindung, in der diese Wörter gebraucht werden, ist besonders interessant und macht uns ihre Bedeutung deutlicher.
1. Der Ruf zum Christwerden kommt von keinem Geringeren als von Gott.
Er ergeht nicht an den Menschen, weil er diese Berufung verdient hat, sondern weil Gott ihm Barmherzigkeit erzeigen will. Jakob wurde nicht wegen seines besonderen Verdienstes vor Esau erwählt, sondern einfach, weil Gott ihn gerufen hatte (Röm 9,11). Auch unsere eigene Berufung geht unmittelbar auf den Willen Gottes zurück (Röm 8,30).

2. Wir können auch sagen, dass der Ruf Gottes mit charis - Gnade verbunden ist (Gal 1,6.15). Gott hat uns nicht deshalb erwählt, weil wir besonders gut waren, oder weil wir besondere Fähigkeiten erworben hatten. Es ist einzig und allein die Güte und Gnade Gottes, die uns gerufen hat, obwohl wir diesen Ruf niemals verdient haben. Gottes Ruf ist eine Einladung, auf die wir keinerlei Anspruch erheben können. Nicht unsere Vortrefflichkeit, sondern die Liebe Gottes ist der Beweggrund für diese Berufung.

3. Der Ruf ist auch verbunden mit eirene - Frieden (1 Kor 7,15; KoI 3,15). Im Sinne des Neuen Testaments ist Friede aber nicht nur das Gegenteil von Unruhe und Unfrieden, sondern es schliesst alles das ein, was zu unserem eigenen Besten dient. Von Robert Burns wird gesagt, dass sein Glaube ihn peinigte, statt ihm zu helfen. Gottes Ruf ergeht an uns, um uns zu helfen, das zu werden, was wir für Gott und unsere Mitmenschen sein sollten.

4. Der Ruf steht in engem Zusammenhang mit koinonia - Gemeinschaft (1 Kor 1,9). Er bedeutet eine zweifache Gemeinschaft, nämlich mit Christus und unseren Mitmenschen. Der Mensch, der dem Rufe Gottes folgt, ist im Begriff ein neues Verhältnis zu Christus und zu seinen Mitmenschen zu gewinnen.

5. Der Ruf steht in enger Beziehung zu eleutheria - Freiheit (Gal 5,13). Dem Ruf Gottes folgen bringt nicht Sklaverei, sondern Freiheit. Der Mensch, der die Einladung Gottes annimmt, wird befreit von seinem alten Ich, von der Sünde und dem Satan.

6. Der Ruf ist verknüpft mit elpis - Hoffnung (Eph 4,4). Folgt jemand der Aufforderung Gottes, so bedeutet dies das Ende von Pessimismus und aller Verzweiflung. Man ist nicht länger ein hoffnungslos Geschlagener, sondern trägt nun die Fähigkeit zum Sieg in sich. Unser Leben ist nicht länger eingeengt durch Enttäuschungen, vielmehr umgibt uns eine Fülle von ungeahnten Möglichkeiten.

7. Der Ruf ist mit Pflicht oder Dienst verbunden. Wir werden immer wieder ermahnt, unserer Berufung gemäss zu wandeln (Eph 4,1; 1 Kor 7,17). Wir sind gerufen, in den Fussstapfen Jesu zu gehen (1 Petr 2,21). Es ist ein Ruf zur Heiligung - hagiasmos und nicht zu einem Leben in akatharsia - Unreinigkeit (1 Thess 4,7). Ein Mensch, der dem Ruf Gottes folgt, betritt damit den Weg der Heiligung. Gott, der uns ruft, ist heilig, deshalb müssen die Berufenen auch heilig sein (1 Petr 1,15). Wir müssen der Berufung würdig gemacht werden (2 Thess 1,11). Wir müssen immer danach streben, unsere Berufung festzumachen, denn unser ewiges Leben hängt davon ab (2 Petr 1,10). Ein Mensch mag ein Geschenk erhalten, von dem er weiss, dass er es nie verdient hat; er mag eine so grosszügige Gabe erhalten, wie er sie nie zurückzahlen kann; er mag eine Güte erfahren, die ihm nicht im entferntesten zukommt. Wird er nicht seine ganze Kraft, sein ganzes Leben aufwenden, um seine Dankbarkeit auszudrücken? Seine Anstrengungen entspringen nicht der Furcht, er will damit nicht Anerkennung erlangen, sie sind einfach das Ergebnis einer bewundernden Liebe. Genauso ist es mit dem Ruf Gottes an uns. Wir können nichts tun, um die Berufung zu verdienen. Deshalb sollten wir unser ganzes Leben, all unsere Kraft daransetzen, uns dieser Liebe würdig zu zeigen, die uns gegen alles Verdienst so hoch geadelt hat.

Wir müssen noch einige andere Dinge berücksichtigen, die mit der Bedeutung des Rufes Gottes zu tun haben.
1. Der Ruf ist verbunden mit Rettung - sozein (2 Tim 1,9). Wenn wir dem Ruf Folge leisten, werden wir dadurch gleichzeitig von der Todesstrafe gerettet und mit Kraft für ein neues Leben ausgerüstet. Die Berufung rettet von Strafe und erfüllt uns mit Kraft. Dieses Heil ist ewig; es beginnt auf dieser Erde, aber bleibt bestehen, wenn diese vergeht, es beginnt in der Zeit und findet seine Erfüllung in der Ewigkeit. Es gibt eine Reihe von Verbindungen dieser Wortgruppe, die in ihrer Bedeutung diese Welt und die zukünftige einschliessen.

2. Christen sind Menschen, die zu Heiligen berufen sind (kletoi hagioi). Hagios bedeutet wörtlich abgesondert. Ein Mensch, der im biblischen Sinne des Wortes hagios - heilig, ist, hat sich abgesondert von der Welt, um sich Gott zu weihen. Die Heiligkeit im Sinne des Neuen Testaments dreht sich mehr um das Sinnen und Trachten eines Menschen als um seine Umgebung. Die Lebensrichtung des Christen zeigt auf Gott; der Jünger Jesu lebt schon jetzt mit Gott und wird ihn einmal von Angesicht zu Angesicht schauen.

3. Der Christ ist aus der Finsternis ins Licht berufen (1 Petr 2,9). Er ist herausgerufen aus dem Dunkel der Welt, der Sünde, der Erstarrung und des Todes, hinein in das Licht der Erkenntnis Gottes und des ewigen Lebens. Der Christ lebt nicht in dem Zwielicht zunehmender Dunkelheit, sondern in dem strahlenden Licht des anbrechenden Tages.

4. Der Christ ist zu ewigem Leben und zu einem ewigen Erbe berufen (1 Tim 6,12; Hebr 9,15). Das Wort ewig - aionios im NT drückt mehr den Wert des Lebens als seine Dauer aus. Aionios - ewig ist eine Eigenschaft Gottes; ewiges Leben ist daher das Wesen des Lebens Gottes. Der Christ ist herausgerufen aus seiner mühseligen, beschmutzten und todgeweihten Existenz hinein in die Glückseligkeit des Lebens Gottes.

5. Manchmal wird das noch anders ausgedrückt. Der Christ ist von Gott zu hoher Ehre berufen (Hebr 9,15). Er ist zur Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus berufen (2 Thess 2,14). Er ist gerufen, die ewige Herrlichkeit Gottes zu erlangen (1 Petr 5,10). Die Berufung Gottes stellt grosse Anforderungen, aber gibt auch ebenso grosse Verheissungen. In dem Wort Herrlichkeit liegt das, was die Ewigkeit für uns bereit hält. Der Christ ist zu nichts Geringerem berufen, als die Pracht und die Herrlichkeit Gottes zu teilen. Das NT denkt nicht so sehr an die Strafe dessen, der den Ruf Gottes ablehnt, als vielmehr an die Herrlichkeit, die er damit ausschlägt.

6. Dieser Ruf ergeht an uns durch andere Menschen, wie Paulus es in dem Brief an die Thessalonicher ausdrückt (2 Thess 2,14). Es ist das grosse Vorrecht der Christen, dass sie diesen Ruf an andere übermitteln können. Der Christ - und das heisst nicht nur der Prediger - soll die Einladung Gottes zur Herrlichkeit seinen Mitmenschen weitergeben.