Auslegung-07: Bildlhafte Sprache erkennen

Auslegung der Bibel

 

In der Bibel spricht Gott zu Menschen durch Menschen in der Sprache der Menschen. Die Schrift benutzt den Wortschatz, die Grammatik, gewisse Sprachgepflogenheiten und Stile der Menschen. Daraus folgt, dass alles, was die menschliche Sprache charakterisiert, auch in der Bibel zu erwarten ist. So wie wir in unserer Kommunikation bildhafte Ausdrücke gebrauchen, macht auch Gott davon Gebrauch, wenn er mit uns spricht.

Alle stimmen darin überein, dass die Bibel - zumindest an einigen Stellen - die bildhafte Sprache benutzt. Aus diesem Grund müssen wir mehrere Fragen beantworten: „Wie können wir bildhafte Sprache in der Schrift verstehen?“; „Wie können wir wissen, wann bildhafte Sprache verwendet wird?“; „Welche Arten bildhafter Sprache existieren in der Schrift?“ Wir werden auf jede dieser Fragen eingehen, doch zunächst wenden wir uns einer grundlegenden Frage zu: Was ist das Wesen einer Sprache?

Hintergrund für das Verständnis von bildhafter Sprache

Die erste Wahrheit im Hinblick auf bildhafte Sprachen ist, dass jede Sprache symbolisch ist. Wir unterscheiden zwischen (a) dem Objekt oder der Sache, (b) den Lauten, durch die das Objekt oder die Sache repräsentiert wird und (c) der Art und Weise, wie diese Laute schriftlich niedergeschrieben werden.

Zum Beispiel ist ein Stuhl ein Objekt, auf dem wir sitzen können. Im Deutschen nennen wir dieses Objekt „Stuhl“. Das Wort „Stuhl“ besteht aus einer Kombination mehrerer Laute, die durch die Buchstaben „S-t-u-h-l“ repräsentiert werden. Existierte der Stuhl, bevor er seine Bezeichnung erhielt? - Ja. Könnte er ohne eine Bezeichnung existieren? - Ja. Würde der Stuhl etwas Anderes werden, wenn wir ihm eine andere Bezeichnung gäben? Nein. Wir sehen: Ein Objekt existiert getrennt von seiner Bezeichnung. Das Objekt ist nicht das Wort, wie auch das Wort nicht das Objekt ist. Der Stuhl ist ein Stuhl. Er bleibt, was er ist, unabhängig davon, wie wir ihn nennen. Sowohl die Laute als auch die Buchstaben, die das Objekt „Stuhl“ repräsentieren, sind Symbole. Die ganze Sprache besteht aus Symbolen.

Die zweite Wahrheit ist, dass eine Sprache aus vereinbarten Symbolen besteht. Eine Gruppe von Menschen stimmt darin überein, wie ein Laut oder eine Kombination mehrerer Laute eine Sache repräsentiert und diese Laute mit bestimmten Zeichen niedergeschrieben werden. Menschen mit derselben Sprache haben eine bestimmte Lautkombination, um ein „Buch“ zu bezeichnen; Menschen, die eine andere Sprache sprechen, haben andere Laute, um ein „Buch“ zu benennen. Das Buch bleibt ein Buch, unabhängig davon, wie es in den verschiedenen Sprachen genannt wird.

Nehmen wir an, eine bestimmte Gruppe würde die Entscheidung treffen, einen Tisch ab sofort „Stalz“ zu nennen. „Kommt zu Stalz, es gibt Mittagessen!“, würde die Mutter ihre Kinder rufen. Wenn diese Menschen übereinkommen, dass der Tisch jetzt ein „Stalz“ ist, dann wäre es für sie eben ein „Stalz“ und kein Tisch mehr.

Die Sprache hat also einen gemeinschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Aspekt. Bevor Wörter Teil einer Sprache wurden, müssen sich die Menschen hinsichtlich der Bedeutung ihrer Sprache einig sein. Diese Tatsache weist aber auch darauf hin, dass sich eine Sprache im Verlauf der Zeit verändern kann. Kein Gremium von Sprachredaktoren sitzt irgendwo auf dem Berg Olymp oder im Empire State Building. Es gibt keine Organisation, die Regeln hinsichtlich der Bedeutung von Wörtern herausgibt. Vielmehr entstehen und verändern sich Wörter beim täglichen Gebrauch. Redaktoren von Wörterbüchern beschreiben diese Veränderungen bloss und nehmen Sprachneuerungen auf. Wörter verändern ihre Bedeutung, wenn man sie anders gebraucht; doch niemand gebraucht ein Wort deshalb anders, nur weil es im Wörterbuch anders definiert wurde. Die Menschen finden es vorteilhaft, die Wörter von Zeit zu Zeit etwas anders zu benutzen als in der ursprünglichen Weise. Das heisst, ein Wort kann mit der Zeit eine Bedeutung annehmen, die sich von der ursprünglichen deutlich unterscheidet.

Wenn wir an bildhafte Sprache denken und uns bewusst sind, dass sich die Bedeutung solcher Wörter ändert, so sollten wir auch damit rechnen, dass eine bildhafte bzw. übertragene Bedeutung eines Wortes zur eigentlichen bzw. buchstäblichen Bedeutung werden kann. Clinton Lockhart stimmt dieser Sichtweise zu und schreibt:

… die übertragene Bedeutung eines Wortes ist immer eine sekundäre Leseart. Wenn diese spätere Bedeutung zur Gewohnheit wird und die ursprüngliche Bedeutung nicht mehr im Gebrauch ist, wird die spätere Bedeutung als wörtlich verstanden. Deshalb lässt sich die Grenze zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung nicht immer klar trennen.

Betrachten wir zum Beispiel das Wort „Holocaust“. Was verstehen wir heute, wenn jemand von „Holocaust“ spricht? In einem englischen Lexikon, das 1963 veröffentlicht wurde, wird folgende Bedeutung genannt: „1. Ein Opfer, das vollständig verbrannt wird; Brandopfer [das Wort lehnt sich stark an das griechische Wort für „Brandopfer“ im Alten Testament an]. 2. Vollständige Zerstörung durch Feuer, besonders von Tieren und Menschen. 3. Massenvernichtung.“ Ein neueres Lexikon enthält folgende Definition für „Holocaust“: „Völkermord an den europäischen Juden und anderer durch die Nazis während des Zweiten Weltkrieges.“ Tatsächlich ist es die neuere Definition, die dieses Wort für die meisten Menschen heute hat. Ist nun diese Bedeutung, der die meisten in der westlichen Welt zustimmen, eine bildhafte bzw. übertragene oder eine wörtliche Bedeutung? Offensichtlich wurde „Holocaust“ am Anfang im übertragenen Sinn verwendet. Da aber nur noch die 3. Bedeutung für die meisten heute relevant ist, kann man auch von wörtlicher Bedeutung sprechen.

Ein weiteres Beispiel ist das Wort „wandeln“. Das griechische Wort dafür lautet peripateo. Ganz am Anfang der Bibel wird es in seiner ursprünglichen Form verwendet, wenn es in Genesis 3,8 heisst: „Und sie hörten die Stimme Gottes, des Herrn, der im Garten wandelte bei der Kühle des Tages.“ Im Neuen Testament wird es meistens mit umhergehen übersetzt, wenn es das wörtliche Herumgehen meint (siehe Mk 2,9; Joh 5,8; Apg 3,6). Paulus braucht es aber im Sinne von leben (siehe Gal 5,16; 1 Thess 2,12; Kol 1,10). Hier wird eigentlich die bildhafte Sprache angewandt. Dennoch können wir uns fragen, ob der Begriff „wandeln“ wirklich „bildhaft“ verwendet wird, so wie ihn Paulus ursprünglich in seinen Schriften benutzte (z. B. Eph 4,1). Wenn wir vom Lebenswandel reden, ist dies dann wörtlich oder im übertragenen Sinn zu verstehen? In diesem Zusammenhang denken wir nicht zuerst an jemand, der im Zimmer herumwandelt und übertragen dann diese Bedeutung auf seine Lebensführung. Vielmehr denken wir sofort an unseren Lebensstil, wie wir ihn führen sollten. So wird auch im Deutschen die „bildhafte“ Sprache verwendet, ohne an die buchstäbliche zu denken. Darum ist es nicht immer einfach zu entscheiden, ob ein Wort „bildhaft“ oder „buchstäblich“ zu verstehen ist. Wie wichtig sind diese Überlegungen für uns, wenn wir die bildhafte Sprache in der Bibel untersuchen?

Eine Definition der bildhaften Sprache

Zuerst gilt es, das Wesen der Sprache zu verstehen, damit wir die Bedeutung der „bildhaften Sprache“ definieren können. Der Unterschied zwischen dem Wörtlichen und dem Bildhaften liegt in dem Unterschied zwischen dem normalen bzw. gewöhnlichen Gebrauch eines Wortes und dem, der davon abweicht. Dieser Gedanke kommt der Definition von L. Berkhof über bildhafte Sprache sehr nahe. Er sagt, dass in diesen Bildern „ein Wort oder Ausdruck in einem anderen Sinn gebraucht wird, als das normalerweise geschieht“. Lockhart sagt, „Bei einer bildlichen Sprache [...] kommt es zu einer Abweichung oder Abwendung von der ursprünglichen Bedeutung, die ein Wort normalerweise hat.“ Berkeley Mickelsen schreibt dazu:

Bei der wörtlichen Bedeutung bezieht sich der Autor auf den normal gebräuchlichen Sinn, der durch ein Wort oder einen Ausdruck vermittelt wird. [...] Bei einer bildhaften Bedeutung denkt der Schreiber an eine Veranschaulichung einer Sache durch eine andere, weil ihr Wesen einen solchen Vergleich zulässt.

Ein englisches Schulbuch sagt: „Eine Sprache, die dem normalen Gebrauch der Wörter entspricht, heisst wörtliche Sprache. Aber die Schreiber müssen oft über den normalen Gebrauch hinausgehen, zur bildhaften Sprache – eine Sprache die einen phantasievollen Vergleich verwendet und deshalb bildhafte Rede genannt wird.

Fehler bei der bildhaften Sprache

Ein zweiter Vorteil – wenn wir das Wesen der Sprache verstehen – besteht darin, dass wir weniger Fehler im Umgang mit der bildhaften Sprache machen.

1. Bildhafte Aussagen abschwächen. Es ist ein Fehler zu meinen, bildhafte Sprache sei weniger wichtig oder weniger bedeutsam, als wörtliche Sprache. „Das ist nur eine bildhafte Sprache“, dient dem Leser manchmal als Ausrede, um die Wichtigkeit eines Abschnittes herunterzuspielen. Wenn wir das Wesen der Sprache verstehen, dann wissen wir, dass die Wahrheit einer bildhaften Sprache dasselbe Gewicht hat wie in der wörtlichen Sprache.

2. Bildhafte Sprache auslegen, als wäre sie wörtlich. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass jede Aussage buchstäblich zu verstehen sei. Einige sagen: „Wenn wir eine Formulierung, die Gott benutzt hat in einer anderen Weise auslegen, stellen wir uns gegen Gottes Wort“ und geben einem Abschnitt gleichzeitig eine sogenannte buchstäbliche Bedeutung, die der Schreiber nie beabsichtigt hatte. Manchmal werden Abschnitte buchstäblich ausgelegt, die offensichtlich bildhaft gemeint sind. Die Offenbarung spricht beispielsweise von „1’000 Jahren“ (Offb 20,2) und „144‘000 Versiegelten“ (Offb 7,4). Die meisten Ausleger halten beide Zahlen für bildhaft; einige nehmen sie wörtlich (absolut). Deshalb gilt es sorgfältig zu sein, damit wir nicht den gleichen Fehler machen.

Vielleicht liefert uns die Stelle in Johannes 21,25 ein gutes Beispiel. Johannes schreibt: „Es gibt aber auch viele andere Dinge, die Jesus getan hat; wenn diese alle einzeln niedergeschrieben würden, so würde, scheint mir, selbst die Welt die geschriebenen Bücher nicht fassen.“ Jemand könnte sagen: „Wenn alles, was Jesus getan hat, niedergeschrieben werden könnte, wäre der gesamte Planet zu klein, um die Bücher aufzunehmen. Dies sagt die Bibel über Jesus und ich glaube das!“ Eine solche Auffassung wird dem Wort von Johannes nicht gerecht. Johannes benutzte eine Hyperbel, eine Übertreibung des Ausdrucks, um es auf den Punkt zu bringen. Tatsächlich tat Jesus noch viel, viel mehr Dinge, die Johannes nicht aufgeschrieben hat. Es ist gut, wenn wir sagen: „Wenn Gott etwas sagt, dann glaube ich Seinen Worten!“ – Zuerst aber müssen wir genau ergründen, was Gott meint und das Wort so auslegen, wie es der von Gott inspirierte Schreiber selbst benutzt hat. Johannes wollte seine Worte in Johannes 21,25 nicht buchstäblich verstanden wissen.

3. Buchstäbliche Sprache als bildhaft auslegen. Es gibt Menschen, die sich beim Bibelstudium durch ihre Annahmen beeinflussen lassen. Sie glauben, dass die Wunder und die Auferstehung Jesu keine historischen Tatsachen sind. Sie betrachten die Schrift als Ansammlung von Geschichten, die eine bestimmte Moral lehren wollen. Andere bezweifeln die Wiederkunft Christi, obwohl sie die Schrift deutlich lehrt; sie glauben, die Stellen, die sein Kommen voraussagen, seien bereits erfüllt. Beide, sowohl die, welche die Wunder anzweifeln, als auch die Leugner der Wiederkunft Christi, legen wörtliche Aussagen bildhaft aus. Sie sollten sich an die Grundregel erinnern, dass ein Abschnitt immer wörtlich, im Sinne seiner eigentlichen Bedeutung ausgelegt werden sollte, – es sei denn, es gibt ein gewichtiges Argument dagegen.

Diese Erkenntnis führt zur Schlussfolgerung, dass bei der Frage, ob eine Aussage „wörtlich“ oder „bildhaft“ verstanden werden soll, die gleiche Regel gilt wie beim Wortstudium. Es geht um die Frage: „Wie haben es die ersten Hörer oder Leser verstanden?“ Die Frage, ob es sich um eine wörtliche oder bildhafte Sprache handelt, muss vor diesem Hintergrund beantwortet werden.

Kriterien um eine bildhafte Sprache zu erkennen

Edward P. Myers liefert folgende Leitlinien zur Bestimmung einer wörtlichen bzw. bildhaften Sprache:

1. Der Ausdruck zeigt normalerweise in seinem Zusammenhang, ob er bildhaft gemeint ist oder nicht. Ein Ausdruck ist immer wörtlich zu verstehen, es sei denn, die offensichtliche Bedeutung verbietet es. Im Satz „der Herr ist mein Hirte“ zum Beispiel, wird das Wort Hirte offensichtlich bildhaft verwendet.

2. Ein Ausdruck ist dann bildhaft, wenn eine buchstäbliche Bedeutung unmöglich ist. Zum Beispiel sagt Jesus: „Lass die Toten die Toten begraben“ (Mt 8,22) oder „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ (Joh 15,5a). Jesus benutzt hier eine Sprache, die ein buchstäbliches Verständnis unmöglich macht.

3. Ein Ausdruck ist dann bildhaft, wenn er etwas verlangt, was ethisch falsch ist oder etwas verbietet, was richtig wäre. Wollten wir Jesus wörtlich verstehen, wenn er zum Beispiel verlangt, dass jemand seine Hand abhauen oder sein Auge ausreissen soll, würden wir den Sinn dieser bildhaften Sprache missverstehen.

4. Eine Stelle ist dann bildhaft, wenn seine wörtliche Bedeutung einer anderen Stelle widerspricht, die klar verständlich ist. Es ist kein Widerspruch, wenn wir einmal lesen „jeder ... wird nicht sterben in Ewigkeit“ (Joh 11,26) und „denn wie in Adam alle sterben“ (1 Kor 15,22). Während eine Stelle wörtlich gemeint ist, muss die andere bildhaft oder geistlich verstanden werden.

5. Einige Stellen (oder ihr Zusammenhang) sagen manchmal selbst, dass sie bildhaft zu verstehen sind. In Johannes 2,19 sagte Jesus: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tage werde ich ihn aufrichten.“ Vers 21 erklärt, dass Jesus nicht vom buchstäblichen Tempel sprach, sondern „vom Tempel seines Leibes“.

6. Stellen, die etwas ins Lächerliche ziehen oder verspotten, sind in der Regel bildhaft. Wenn Jesus den Herodes „Fuchs“ nennt, meint er dies nicht wörtlich. Mit dieser Sprache will Jesus die List und Schlauheit von Herodes betonen.

7. Manchmal zeigt der gesunde Menschenverstand, dass es sich um eine bildhafte Sprache handelt. Zum Beispiel, als sich Jesus mit der Frau am Brunnen unterhielt (Joh 4), da sprach er zu ihr über das „lebendige Wasser“, von dem man nie mehr Durst bekomme, wenn man es trinke. Offensichtlich meinte er damit nicht das Wasser, das aus jenem oder einem anderen Brunnen geschöpft wurde.


Die meisten dieser Regeln gründen auf Prinzipien des gesunden Menschenverstandes. Die Hauptaufgabe besteht für den Ausleger darin, sich bewusst zu machen, dass die Aussagen der biblischen Schreiber oder Sprecher nicht immer wörtlich genommen werden dürfen.

Betrachten wir zur Veranschaulichung Kolosser 1,23: „… vom Evangelium, das ihr gehört habt, das in der ganzen Schöpfung unter dem Himmel gepredigt worden ist, dessen Diener ich, Paulus, geworden bin.“ Luther übersetzt: „... und das gepredigt ist allen Geschöpfen unter dem Himmel …“ Diese Aussage von Paulus lässt Fragen aufkommen wie: „Ist hier tatsächlich jedes einzelne Geschöpf unter dem Himmel gemeint? Auch die Menschen in Ostasien oder im südlichen Afrika? Wurde das Evangelium wirklich schon diesen Menschen verkündigt, als der Kolosserbrief geschrieben wurde, d. h. etwa 60 n. Chr.?“ Einige mögen antworten: „Wenn es die Bibel so sagt, dann glaube ich es, so wie es geschrieben steht“ – obwohl es ausgesprochen fragwürdig ist, dies zu glauben. Wir haben auch keinen anderen Anhaltspunkt, der diese Vorstellung unterstützt.

Eine sinnvolle Frage wäre: „Könnte Paulus bildhaft gesprochen haben, indem er das Wort ‚ganz‘ bzw. ‚allen‘ leicht anders versteht als in seiner ursprünglichen Bedeutung?“ Untersuche die folgenden Stellen, wo das gleiche griechische Wort (pas) wie in Kolosser 1,23 vorkommt und nachstehend fett gedruckt ist.

Apostelgeschichte 2,5: „Es wohnten aber in Jerusalem Juden, gottesfürchtige Männer, von jeder Nation unter dem Himmel.“ Lebten wirklich Menschen aus Amerika, Australien und Japan in Jerusalem?

Markus 1,5: „Und es ging hinaus das ganze jüdische Land und alle Einwohner Jerusalems und wurden im Jordanfluss von ihm getauft.“ Kam wirklich jede einzelne Person aus diesem Gebiet zu Johannes und liess sich taufen?

Apostelgeschichte 19,27: „[Demetrius sagte,] Nicht allein aber ist für uns Gefahr, dass dieses Geschäft in Verruf kommt, sondern auch, dass der Tempel der grossen Göttin Artemis für nichts erachtet und auch ihre herrliche Grösse, die ganz Asien und der Erdkreis verehrt, vernichtet wird.“ Glaubte Demetrius tatsächlich, dass jeder einzelne Mensch auf der Erde Artemis verehrte?

1. Korinther 15,30: „Warum sind auch wir jede Stunde in Gefahr?“ War Paulus täglich jede einzelne Stunde in seinem Leben in Gefahr?

Wenn wir diese und andere Stellen lesen, merken wir, dass „alle“, „jeder“ oder „ganz“ nicht buchstäblich „jedes einzelne“ meint. In diesen Stellen finden wir die gleiche Aussage, wie wenn wir sagen, „alle waren auf der Geburtstagsparty“. Wir meinen nicht buchstäblich „jede einzelne Person“, sondern im Sinne von „viele Menschen“, „die meisten der Klasse“, „die meisten meiner Freunde oder Verwandten“. In gleicher Weise meint auch Kolosser 1,23 nicht, dass „jede einzelne Person auf dem gesamten Planeten das Evangelium gehört habe“. Wenn wir nicht wahrhaben wollen, dass Gott es in seinem inspirierten Wort zulässt mit „allen“ nicht wirklich „alle“ zu meinen, dann wollen wir auch nicht wahrhaben, dass Gott zu uns Menschen in der Sprache spricht, wie wir Menschen sie gebrauchen.

Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass Paulus die damals bekannte Welt bzw. das Römische Reich meinte. Eine solche Bedeutung ist offensichtlich, so wie sie es in allen anderen Stellen ist, wo „alle“ oder „jeder“ vorkommt. Mit andern Worten: Der gesunde Menschenverstand zusammen mit dem Verständnis der antiken Welt und die Verwendung des Wortes „alle“ zeigen im Zusammenhang, dass jenes Wort „alle“ in Kolosser 1,23 nicht wörtlich genommen werden darf.

Arten von bildhafter Sprache in der Bibel

Es lassen sich eine Vielzahl von Arten bildhafter Sprache in der Bibel finden.

Idiome (Redensarten)
Jede Sprache hat ihre eigenen Idiome oder Redensarten. Das Lexikon definiert eine „feste Wortverbindung, deren Bedeutung sich nicht aus der Bedeutung seiner einzelnen Bestandteile ergibt“. Manchmal kann ein Idiom das Gegenteil von dem meinen, wie es dasteht. In gewissen Gegenden wird der Ausdruck „niemand hat nichts gemacht“ gebraucht um auszudrücken, dass niemand irgendetwas gemacht hat. „Es muss zuerst schwarz schneien, bevor du mich besuchst“, meint nicht, dass schwarzer Schnee fällt, sondern dass der Besucher sehr selten kommt. Im Süden der USA ist der Ausdruck „Komm sofort zurück“ eine freundliche Art, „auf Wiedersehen“ zu sagen. Ein Australier zahlte in einer Drogerie seine Rechnung und wandte sich dem Ausgang zu. Der Angestellte rief ihm hinterher, „komm sofort zurück“. Der Kunde drehte sich sofort um und ging zur Kasse zurück. Er verstand das Idiom nicht.

Ein Ausleger der Bibel muss achtsam sein, dass auch im betrachteten Text, ein solches Idiom vorhanden sein kann. Robert H. Stein zeigt folgendes auf: Wenn die Begriffe „Liebe“ und „Hass“ einander gegenübergestellt werden, ist dies ein Idiom. Das heisst, unter dem Begriff „Hass“ wird dann eine „geringere Liebe“ verstanden. Er fügt hinzu:

Andere Idiome der Bibel sind, „das Herz zerschmolz“ und steht für verlorenen Mut (Jos 2,11; 5,1; 7,5; 2 Sam 17,10 usw.), „die Sterne, die Sonne und der Mond geben ihr Licht nicht mehr“ für göttliches Eingreifen ins Zeitgeschehen, sowohl zum Segen, wie zum Fluch (Jes 13,9-11; 24,23; Ez 32,7-8; Joel 2,10 usw.), „darum werde ich ... deine Nachkommen überaus zahlreich machen wie die Sterne des Himmels und wie der Sand, der am Ufer des Meeres ist“ steht für eine grosse Anzahl Menschen (Gen 22,17; 26,4; 32,12; Ex 32,13 usw.), „Heulen und Zähneklappern“ für grosse Trauer und schweren Verlust (Klagl 2,16; Mt 8,12; 13,42.50; 22,13 usw.), „es blieb kein Mann zurück“ für einen grossen Sieg (Jos 8,17; Ri 4,16; 2 Kön 10,21 usw.).

Redewendungen
Zusätzlich zu den Idiomen enthält die Bibel auch verschiedene Redewendungen. Bevor wir sie einzeln betrachten, sollten wir verstehen, dass die Schreiber der Bibel diese Redewendungen nicht um ihrer selbst willen eingesetzt haben. Das heisst, Paulus oder Johannes haben sich nicht gesagt: „Nun benütze ich eine Redewendung, um etwas Abwechslung in den Text zu bringen. Welche könnte ich denn hier nehmen?“ Vielmehr dürften die Schreiber sich folgendes gesagt haben: „Das ist die Botschaft, die ich zu vermitteln habe, wie kann ich mich am besten ausdrücken?“ Schliesslich wurde etwas bildlich erklärt, ein Vergleich gemacht oder eine Redewendung eingesetzt, ohne sich zu überlegen, um was für eine Redewendung es sich dabei handelt. Zuerst entstanden die Redewendungen, anschliessend wurden sie klassifiziert und benannt.

Welche Redewendungen finden wir in der Schrift?
Die folgenden Abschnitte stammen von Myers. Einige moderne Beispiele wurden hinzugefügt.

Vergleich. Bei dieser Redewendung werden zwei Dinge über das Wort „wie“ oder „als“ miteinander verglichen. Zum Beispiel sagt jemand „er isst wie ein Schwein“. Der Prophet Jeremia sagt, dass Gottes Wort wie ein Feuer“ ist (Jer 3,29). Jesus sagt (Mt 13,27): „Das Reich der Himmel ist wie ein Sauerteig.“

Metapher. Das ist ein bildlicher Ausdruck. Zwei Dinge werden ohne das Wort „wie“ oder „als“ miteinander verglichen (eine sinnbildliche Darstellung). Man sagt nur „er ist ein Schwein“. Jakob sagte (Gen 49,9): „Juda ist ein junger Löwe.“ In Matthäus 5,13-16 formuliert Jesus einen Gedanken und sagt: „Ihr seid das Salz der Erde.“ In Johannes 8,12 sagt er: „Ich bin das Licht der Welt.“

Metonymie. Bei dieser Redewendung wird eine Sache durch eine andere ersetzt (Namensvertauschung). Zum Beispiel wird „Krone“ für „König“ verwendet, weil beide Begriffe miteinander eng verbunden sind. Ähnlich wie „das Weisse Haus“, das für den Präsidenten steht oder für die Regierung der Vereinigten Staaten. Sowie „Duden“ für das Wörterbuch zur deutschen Rechtschreibung steht. Der Name „Jakob“ bedeutet gleichzeitig das ganze Volk „Israel“ (Am 7,9). „Mose und die Propheten“ stehen für die Schriften des Alten Testaments mit allen ihren Geboten und Lehren (Lk 16,29). „Der Kelch“ steht für den Tod (Mt 20,22) oder einfach nur für seinen Inhalt (Mt 26,27).

Synekdoche (Rhetorik). Ein Teil kann das Ganze bedeuten, oder das Ganze steht nur für einen Teil davon. „Wir leben alle unter einem Dach“ oder „Solange du deine Füsse unter meinen Tisch stellst“. Das Wort Dach bzw. Tisch steht für das ganze Haus. In einigen Stellen spricht das Neue Testament von der ganzen Welt, meint aber nur einen Teil davon (Apg 24,5; Lk 2,1; Röm 1,8; Apg 19,27).

Hyperbel. Das ist eine starke Übertreibung, die bewusst geschieht, wie zum Beispiel: „Ich habe dir schon millionenfach gesagt, du sollst nicht übertreiben!“ Gott verspricht dem Abraham, dass seine Nachkommen zahlreicher als die Sterne des Himmels sein werden (Gen 15,1-6).

Personifikation. Ein lebloses Objekt vermenschlichen. Jemand sagt: „Mein Computer liebt mich nicht, er benimmt sich nicht anständig“ oder „der Motor starb“. In Bezug auf Jerusalem schreibt Jesaja (Jes 3,26): „Da werden ihre Tore klagen und trauern, und vereinsamt sitzen sie am Boden.“ Jesus sagt (Mt 6,34): „Der morgige Tag wird für sich selbst sorgen.“

Ironie. Diese Redeweise ist „ein versteckter Spott, mit dem man etwas dadurch zu kritisieren o. ä. versucht, indem man es unter dem Schein der eigenen Zustimmung oder Billigung lächerlich macht“. Wenn jemand fragt: „Hat dir der Schneesturm gefallen?“, kann eine Person antworten: „Ja, ich liebe es, Schnee zu schaufeln und beinahe zu Tode zu erfrieren!“ Hiob 12,2 sagt: „Richtig, ihr seid die rechten Leute und mit euch wird die Weisheit aussterben!“ Ein weiteres Beispiel finden wir in 1 Könige 18,27: „Ruft mit lauter Stimme, denn er ist ja ein Gott!“ Sarkasmus ist eine Form schwerer Ironie, die verletzen will. Die Soldaten sprachen sarkastisch, als sie zu Jesus schrien (Mt 27,29): „Sei gegrüsst, König der Juden!“ Oftmals zeigt sich die Ironie oder der Sarkasmus nur am Tonfall des Sprechers.

Zitate. Worte können an etwas Lebloses gerichtet werden oder an eine Person oder Gruppe, die nicht anwesend ist. Ein Weihnachtslied beginnt z. B. mit den Worten „O Tannenbaum, o Tannenbaum …“. Im Klagelied Davids wird der getötete Saul und Jonathan gelobt für ihre grossen Taten (2 Sam 1,24-25). Jesus sagt: „Jerusalem, Jerusalem … wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen?“ (Mt 23,37).

Litotes. „Bejahung durch doppelte Verneinung.“ In der Apostelgeschichte 1,5 steht z. Bsp.: „... nach nicht mehr vielen Tagen“ und meint „nach wenigen Tagen“.

Spruch. Ein Spruch ist eine weise Redensart mit einer Moral, die oft in einem Satz ausgedrückt wird. Zum Beispiel: „Aller Anfang ist schwer.“ Im Buch der Sprüche heisst es (Spr 17,1): „Besser ein trockener Bissen und Ruhe dabei, als ein Haus voller Festspeisen, aber Streit dabei.“ Das Buch der Sprüche ist mit solchen Redensarten gefüllt, aber wir finden sie auch in der ganzen Bibel.

Hendiadyoin. „Ausdrucksverstärkung durch Verwendung von zwei sinnverwandten Wörtern.“ Beispiel: „Schwefel und Feuer“ in Genesis 19,24 meint „brennender Schwefel“. Wir brauchen diese Redewendung wie „Angst und Schrecken“ oder „Brot und Butter.“

Euphemismus. Das ist eine Beschönigung. Ausdrücke, die uns zu anstössig scheinen, werden oftmals durch beschönigende Worte ersetzt. „Sein Geschäft verrichten“ ist zum Beispiel so ein Ausdruck unserer Tage. Zur Zeit des Alten Testaments dürfte der Stuhlgang so ausgedrückt worden sein (1 Sam 24,3): „... und Saul ging hinein, um seine Füsse zu bedecken.“

Allegorie. Das ist eine erweiterte Metapher (bildlicher Ausdruck). In der Bibel umfasst eine Allegorie eine ganze Geschichte, die eine geistliche Wahrheit vermittelt. Die Einzelheiten der Geschichte sind wichtig, weil sie geistlich angewandt werden.

Parabel. Eine Parabel ist ein Gleichnis (ein erweiterter Vergleich). Im Unterschied zur Allegorie (eine ganze Geschichte bildlich anwenden) hat die Parabel nur einen einzigen geistlichen Gedanken, den es in einem Vergleich darstellt. Parabeln oder Gleichnisse sind uns bekannt in den Lehren Jesu. Es gibt sie aber auch im Alten Testament (Bsp. 2 Sam 12,1-6).

Es ist nicht nötig, alle diese Redewendungen in den Heiligen Schriften identifizieren und benennen zu können. Es ist aber wichtig zu wissen, dass die Bibel oft Redewendungen verwendet. Wenn wir uns des Unterschieds zwischen wörtlicher und bildhafter Sprache bewusst sind, können wir beim Studium der Schrift viele Fehler vermeiden.

Wie können wir die bildhafte Sprache auslegen?

Die bildhafte Sprache sollte in einer Weise wie die buchstäbliche Sprache ausgelegt werden. Unsere Aufgabe bleibt zu fragen: „Was hatte der Autor im Sinn? Wie haben die ersten Leser dieses Wort verstanden?“ Die folgenden Ratschläge mögen helfen, diese Fragen richtig zu beantworten:

• Bestimme, ob ein Wort wörtlich oder bildhaft gebraucht wird.
• Frage, ob der Autor ein Idiom (Redensart) oder eine bildliche Sprache verwendet. Wenn es eine bildliche Sprache ist, versuche sie zu identifizieren.
• Frage, was er mit einem bildlichen Ausdruck in einem bestimmten Zusammenhang betonen will. Wenn Jesus Herodes als „Fuchs“ bezeichnet (Lk 13,32), spricht er die Arglist von Herodes an. Die gleichen Ausdrücke können in verschiedenen Zusammenhängen verwendet werden mit unterschiedlichen Beziehungen zu Personen oder Ereignissen.
• Lass den Zusammenhang – sowohl den unmittelbaren, wie auch den grösseren - darüber entscheiden, wie ein bildlicher Ausdruck ausgelegt werden soll. Wenn der Redner oder Schreiber den Ausdruck erklärt, muss er als massgebend betrachtet werden.
• Vermeide vorschnell einen Vergleich zu ziehen. Zum Bespiel, wenn davon die Rede ist, dass Jesus wiederkommen wird „wie ein Dieb in der Nacht“ (1 Thess 5,2). In welcher Weise wird sein Kommen wie das Kommen eines Diebes sein? Er wird überraschend kommen. Es wäre ein Fehler, das Kommen Jesu mit irgendeiner anderen Eigenschaft des Diebes zu vergleichen.

Schlussfolgerung

Wie kann das Wissen aus dieser Lektion praktisch angewendet werden?

Erstens sollte der Ausleger wissen, dass die Bibel bildhafte Sprache verwendet. Es geht nicht darum, Zweifel zu säen in der Auslegung der Bibel, wenn wir sagen, dass ein inspirierter Schreiber an einer besonderen Stelle die bildhafte Sprache verwendet. Gott hat zu den Menschen in menschlicher Sprache gesprochen, und Menschen brauchen oft bildhafte Sprache.

Zweitens sollte sich der Ausleger bewusst sein, dass die „bildhafte“ Sprache eine andere Bedeutung der Worte oder Ausdrücke gebraucht als die gewöhnliche.

Drittens sollte er sich erinnern, dass der entsprechende Zusammenhang entscheidet, ob ein bestimmtes Wort oder eine Wortgruppe bildhaft oder buchstäblich zu verstehen ist.

Viertens sollte er sich der verschiedenen Redewendungen bewusst sein, damit er sie sowohl erkennen als auch verstehen kann, während er die Bibel studiert.

Fünftens kann er zwar lernen, zwischen buchstäblicher und bildhafter Sprache zu unterscheiden, darf aber nicht vergessen, dass der Zusammenhang in Verbindung mit dem gesunden Menschenverstand zur richtigen Schlussfolgerung führt. Die Grundsätze des gesunden Menschenverstandes sollten immer in Betracht gezogen werden, um eine bildhafte Sprache auszulegen.