Auslegung-27: Prinzipien in die Praxis umsetzen

Auslegung der Bibel

 

In den ersten beiden Teilen dieser Serie zeigten wir, wie die Schrift ausgelegt wird, d. h. wie wir herausfinden, was die ersten Leser unter einer Bibelstelle verstanden. Im dritten Teil haben wir gesehen, wie Prinzipien uns helfen Bibelstellen anzuwenden. Wie müssen diese Prinzipien in die Praxis umgesetzt werden? Die folgenden kurzen Leitlinien sollen helfen, die Prinzipien richtig anzuwenden.

Wenn es um eine Stelle im Alten Testament geht

Auslegung - Exegesis
Wenn es um eine Stelle im Alten Testament geht, dann ist es zunächst einmal wichtig zu erkennen, was für eine Gattung vorliegt: Gesetz, Geschichte (oder eine Erzählung), Poesie, Weisheitsliteratur oder Prophetie? Erst dann können wir eine Exegesis machen und nach den Anleitungen in den ersten beiden Teilen dieser Serie vorgehen. Der nächste Schritt ist es, so gut wie möglich zu verstehen, was die Stelle für die ersten Leser bedeutete.

Anwendung
Wir beginnen zu fragen: „Wie wird sie angewendet?“

1.  Wird hier vom Kommen des Messias und seines Reiches gesprochen? Wird auf das Neue Testament hingewiesen? Wenn ja, was kann diese Stelle beitragen, um Christus noch besser zu verstehen?

2.  Hilft die Stelle uns, den Heilsplan zu verstehen, wie er im Alten Testament verheissen wird und im Neuen Testament zur Erfüllung gelangt? Wenn ja, wie können wir Gottes Plan zur Erlösung für uns Menschen besser verstehen?

3.  Was lehrt die Stelle über Gott und die Welt, oder was erwartet unser Schöpfer von uns Menschen? Was lernen wir daraus? Wie können diese Wahrheiten mit dem verknüpft werden, was uns im Neuen Testament verkündet wird?

4.  Lehrt die entsprechende Stelle biblische Prinzipien, die auch im Neuen Testament gelehrt werden? Erinnern neutestamentliche Schreiber an diese Bibelstelle, indem sie uns etwas lehren wollen? Wenn ja, was?

5.  Leitet diese Stelle uns an, den Herrn mehr zu lieben und uns seiner Wahrheit mehr hinzugeben? Werden wir getröstet? Viele Psalmen sprechen unser Herz und unser Denken an, zudem trösten sie uns, wie die ersten Leser damals.

Wenn es um eine Stelle im Neuen Testament geht

Auslegung - Exegesis
Wenn die Bibelstelle sich im Neuen Testament befindet, können wir fragen: „Mit welcher Art von Literatur haben wir es zu tun? Biografie (die Evangelien), Geschichte (Apostelgeschichte), Briefe oder Prophetie (Offenbarung)?“ Wenn die Stelle sich in den Evangelien befindet, dann sollten wir fragen, ob es um ein Gleichnis geht? Erst dann können wir das anwenden, was wir in den ersten zwei Teilen dieser Serie besprochen haben, um eine Exegesis zu beginnen. Zuerst gilt es festzustellen, was die entsprechende Bibelstelle den ersten Lesern sagte.

Anwendung
Als nächstes sollten wir fragen: „Wie wird die Stelle angewandt?“

Vieles was den Lesern des Neuen Testaments damals galt kann genauso auf uns heute übertragen werden. In solchen Fällen ist die Exegesis auch gleichzeitig die Anwendung. Wenn wir einmal verstanden haben, was die Stelle den ersten Lesern sagte, dann wissen wir auch, was sie uns zu sagen hat. Um zu verstehen wie eine Stelle auf uns heute angewandt wird können wir fragen:

1.  „Was für Schwierigkeiten gibt es, wenn wir diese Stelle versuchen anzuwenden?“

a)  „Verstehe ich, was diese Aussage im Zusammenhang bedeutet?“ Wenn die Bedeutung für die ersten Leser unklar war, dann sollten auch wir vorsichtig sein bei der Anwendung.

b)  „Gibt es Unterschiede bei der Anwendung von damals und heute?“

c)  „Widerspricht sich die Stelle mit einer andern? Wie weit beeinflusst dieser Punkt die Auslegung oder die Anwendung? Falls dies der Fall ist, wie könnte dieses Problem gelöst werden?“

2.  Wenn es keine weiteren Probleme gibt oder wenn die genannten Probleme gelöst wurden, dann sollten wir uns weiter fragen: „Wie kann ich die Bibelstelle in meinem täglichen Leben anwenden?“

a)  „Welche Wahrheit wird durch diese Schriftstelle gelehrt oder angesprochen?“ Nicht jede Bibelstelle im Neuen Testament beabsichtigt ein verändertes Verhalten. Einige Stellen helfen einfach nur die frohe Botschaft, d. h. das Evangelium, besser zu verstehen.

b)  „Was lehrt die Bibel an anderen Stellen? Widersprechen sich die Stellen miteinander?“ Wichtig ist dass Stellen nicht einzeln herausgepickt und isoliert betrachtet werden zum Gesamtzusammenhang der Bibel.

c)  „Was verlangt die Stelle von mir? Wie kann ich beginnen, diese Aussage in meinem Leben umzusetzen?“

d)  „Wie fühle ich mich, wenn ich diese Stelle lese? Fühle ich mich angeklagt oder bestärkt? Habe ich inneren Frieden? Oder sollte ich mich mehr entschlossen bemühen Gottes Willen zu tun?“

Beispiel: Römer 12,1-2

Die folgende Auslegung (Exegesis) und ihre Anwendung soll zeigen, wie diese erwähnten Prinzipien in die Praxis umgesetzt werden. Der Bibeltext dazu ist Römer 12,1-2:

“Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer, was euer vernünftiger Gottesdienst ist. Und seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung des Sinnes, dass ihr prüfen mögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“

Auslegung - Exegesis
Dieses „Ich ermahne euch nun ...“ im Vers 1 könnte auch mit „darum“ übersetzt werden. Damit wird alles was Paulus vorher gesagt hatte, verbunden. Bis zu diesem Punkt betonte Paulus die Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Diese Barmherzigkeit Gottes sollte uns dazu bringen, dass wir unseren Leib als „lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer“ darbringen. Im Alten Bund wurden tote Tiere geopfert. Im Neuen Bund hingegen werden „lebendige“ Leiber dargebracht, nämlich: Wir Menschen geben uns selbst hin! Solche Opfer, die Gott geweiht werden, sind heilig (heilig bedeutet geweiht). Paulus sagt dass ein solches Opfer unser vernunftgemässer Gottesdienst sein soll für den Herrn. Die Lutherbibel formuliert, „das sei euer vernünftiger Gottesdienst.“ Die Hoffnung für alle übersetzt, „einen solchen Gottesdienst erwartet er von euch.“ Die Neue Genfer Übersetzung schreibt, „das ist der wahre Gottesdienst, und dazu fordere ich euch auf.“ Es geht also auch darum, dass wir uns vernünftig oder geistlich hingeben, weihen zum Dienst für Gott (das heisst, neben den öffentlichen Anbetungen der Gemeinde).

Wie geben wir unsere Leiber dem Herrn hin als lebendige Opfer? Vielleicht sollten wir Römer 12,1 als Hauptsatz verstehen für den Rest des ganzen Kapitels (vielleicht sogar für den Rest des Briefes). Aus dem Vers 2 entnehmen wir, dass wir uns Gott hingeben indem wir uns von der Welt absondern (vergleiche Jak. 1,27; 1. Joh. 2,15). Wir sind umgewandelt und verändert worden durch die Erneuerung unseres Sinnes. Wir lernen anders zu denken und alles mit Gottes Augen zu sehen. Deshalb prüfen wir alles, was der Wille Gottes Wille ist. Das Wort „prüfen“ bedeutet hier vermutlich mehr als bloss erkennen sondern auch erfahren (das heisst prüfen, wie es in der Praxis funktioniert). Wenn wir uns dem Herrn ganz hingeben (z. B. in der Einsicht üben), statt in Rechtfertigungen zu verstricken, dann erfahren wir, wie viele Segnungen aus solch verändertem Denken hervorgehen. Im Vers 2 wird Gottes Wille als gut, wohlgefällig und vollkommen beschrieben. Keine weltlichen Prinzipien vermögen Gottes Willen zu überbieten!

Anwendung
Zuerst stellen wir fest, dass die oben zitierte Stelle sich im Neuen Testament befindet und zu den Briefen zählen, Briefe die von Christen im ersten Jahrhundert geschrieben wurden. Darum beginnen wir mit der Voraussetzung, dass alles, was Gott im Neuen Testament durch seine inspirierten Schreiber den Christen damals mitteilen liess, auch für uns heute noch gilt, ausser es gibt gute Gründe anders darüber zu denken. Gibt es gute Gründe über Römer 12,1-2 heute anders zu denken als damals? „Ist die Aussage dieser Bibelstelle klar?“ Ja! Wenn es auch kleine Unterschiede in den verschiedenen Übersetzungen gibt, so verändert das keineswegs die grundlegende Botschaft dieser beiden Verse.

„Gibt es irgendwelche Unterschiede zwischen dem Gesamtzusammenhang damals und heute, der zu unterschiedlichem Verständnis führen könnte?“ Nein! Die Empfänger dieses Briefes damals lebten zwar an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, aber alle Gläubigen zu allen Zeiten werden angeleitet, diesem Aufruf zu folgen.

“Gibt es andere Schwierigkeiten in dieser Stelle? Zum Beispiel: widerspricht sie anderen Bibelstellen?“ Nein!

Wie können wir also fortfahren, um diese Stelle auf uns heute anzuwenden?

„Welche Wahrheiten werden gelehrt oder angedeutet in dieser Stelle?“ Erstens, diese Stelle lehrt uns etwas über die Natur des Menschen. Ein menschliches Wesen besteht nicht bloss aus einem Körper. Die Stelle deutet darauf hin, dass der Mensch auch aus einem Geist besteht, der frei entscheiden kann, wofür er sein Leben hingibt.

„Wie verhält sich diese Bibelstelle gegenüber anderen Stellen in der Bibel?“ Andere Stellen lehren dasselbe, nämlich, dass wir unser Leben Gott übergeben sollen und heilig sein sollen wie Gott heilig ist (1 Petr 1,16). Wir werden auch aufgerufen, Gott zu lieben mit allem, was wir sind und haben (Mt 22,37) und nicht die Welt zu lieben (1 Joh 2,15).
„Was verlangt diese Stelle von mir? Was kann ich tun, um diese Stelle in meine Praxis umzusetzen?“ Jeder kann diese Fragen für sich selbst beantworten. Für den Einen bedeutet dies, sich als Bibellehrer ausbilden zu lassen, um später andern Gläubigen mit Bibelstunden zu dienen. Für einen anderen bedeutet dies, seine finanziellen Mittel zu erhöhen. Wieder andere werden dadurch angesprochen, ihre sündhaften Gewohnheiten aufzugeben und mehr die Bibel zu lesen und zu beten. Jeder Gläubige sollte fragen: „Was kann ich tun, um mich dem Herrn ganz zu weihen?“

„Wie sollten durch den Wahrheitsgehalt dieser Schriftstelle meine Gefühle angesprochen werden?“ Wenn wir uns vorstellen ein lebendiges heiliges Opfer für Gott zu sein, dann kann uns das ganz schön begeistern. Der Herr will nicht, dass wir ihm ein Tier auf den Altar legen, sondern dass wir uns selbst auf den Altar legen!

Schlusswort

Gottes Wort, die Schrift, die Bibel wurde geschrieben, damit wir sie verstehen. Der allmächtige Gott spricht in menschlicher Sprache zu uns. Darum gilt es dieselben allgemeinen Grundprinzipien zu benützen, die wir sonst auch bei jedem andern Buch anwenden, das wir lesen und verstehen wollen. In dieser Serie wurden einige Grundprinzipien präsentiert, um das ursprüngliche Verständnis der heiligen Schriften zu entdecken. Um die Bibel verstehen zu können, geht es darum zu verstehen, was der Autor beabsichtigte und was die ursprünglichen Empfänger damals darunter verstanden. Diese Prinzipien angewandt wird „Exegesis“ genannt. Bevor wir eine Bibelstelle in heutigen Situationen und Umständen anwenden, gilt es zuerst zu erfassen, was es damals für die ersten Leser im Zusammenhang bedeutete. In den ersten beiden Teilen dieser Serie diskutierten wir die Bedeutung der Exegesis.

Bevor wir nicht das Verständnis entwickelt haben, was eine Bibelstelle für die ersten Lesen bedeutete, können wir aus den Schriften nicht wirklich einen Nutzen ziehen. Gott beabsichtigte nicht nur, dass wir Sein Wort verstehen, sondern auch richtig in unserem Leben anwenden. Deshalb besteht die Hauptaufgabe eines Auslegers zuerst immer darin herauszufinden, was die ersten Leser darunter verstanden. Der zweite Schritt ist zu fragen, was die Stelle für uns bedeutet. Die Exegesis geht also einer Anwendung voraus, obschon die Anwendung das Wesentliche ist. Wenn wir die Anleitungen in dieser Lektion vorsichtig anwenden, können wir sicher sein, dass wir Gottes Wort richtig verstehen. Es geht ja nicht nur darum zu wissen, was Gottes Wort vor über zweitausend Jahren seinen Lesern mitteilen wollte, sondern was es heute noch uns sagen will. Schliesslich bleibt nur noch die Frage offen: „Sind wir bereit Gottes Willen zu tun?“ Es nützt nichts, wenn wir verstehen, was die Bibel den ersten Lesern sagen wollte. Ebenso wenig nützt es etwas zu wissen, was die Bibel uns Menschen heute noch sagen will. Wenn wir Gottes Segen empfangen wollen, dann müssen wir Seinen Willen auch tun, der uns in der Bibel offenbart wird.