Begriffe1-12: Hamartia – das Versagen des Menschen

Griechische Begriffe 1

12.  Hamartia = Sünde

von William Barclay

 

Hamartia ist das gebräuchlichste neutestamentliche Wort für Sünde. In den Briefen des Apostels Paulus kommt es 60mal vor. Hamartanein ist das gebräuchliche Verb für sündigen. Im klassischen Griechisch haben diese Wörter nicht annähernd die ernste Bedeutung wie im NT. Grundsätzlich hatte dort hamartia die Bedeutung von Fehler. Hamartanein bedeutete, zunächst beim Speerwerfen, das Ziel verfehlen. Es konnte auch gebraucht werden, um das Verfehlen eines Weges auszudrücken ebenso wie fehlgeschlagene Pläne, Hoffnungen und Absichten. Im klassischen Griechisch haben die Wörter immer eine negative Bedeutung - Versagen, Unterlassung, Misserfolg; sie drücken dort aber keine schwerwiegende Übertretung aus. Im NT haben sie dagegen einen viel ernsteren Sinn.

Es ist bemerkenswert, dass hamartia im NT keine bestimmte Tat als Sünde bezeichnet, sondern einen Zustand beschreibt, aus dem die einzelnen Sünden resultieren. Tatsächlich personifiziert Paulus fast das Wort Sünde, er spricht von einer verderblichen Macht, welche die Menschen beherrscht.

Was lehrt uns das NT über hamartia?

1. Hamartia - Sünde ist universal (Röm 3,23; 7,14; Gal 3,22; 1 Joh 1,8). Sünde ist nicht wie eine Krankheit, von der manche Menschen befallen und vor der andere verschont werden. Es ist etwas, in das alle Menschen verstrickt sind und dessen jeder einzelne Mensch schuldig wird. Sünde ist kein gelegentlicher Ausbruch, sondern der Zustand aller Menschen.

2. Hamartia - Sünde ist eine Macht, die den Menschen in ihrer Gewalt hat. Die Wörter, die hier benutzt werden, sind sehr interessant und bezeichnend. Der Mensch ist hyph’ hamartian; wörtlich bedeutet das unter der Sünde. Aber diese Präposition hypo mit dem Akkusativ, wie hier, bedeutet „in Abhängigkeit von ... - unter der Kontrolle von ...“ Ein Minderjähriger z. B. ist „unter seinem Vater“, ein Heer steht „unter seinem Kommandeur“; so ist der Mensch „unter der Herrschaft der Sünde“ (Gal 3,22; Röm 3,9). Für die Wirksamkeit der Sünde werden darum ganz bestimmte Worte gebraucht. Von der Sünde wird gesagt, dass sie über den Menschen herrscht - basileuein (Röm. 5,21). Basileus ist das griechische Wort für König. Die Sünde ist Herrscher über die Menschen, sie spielt sich als Herr über uns auf - kyrieuein (Röm 6,14). Kyrios ist das griechische Wort für Herr; dieses Wort hat eine Bedeutung von absolutem „Besitz“, absoluter „Herrschaft.“ Die Sünde nimmt uns gefangen - aichmalotizein (Röm 7,23). Das gleiche Wort wird gebraucht für „im Krieg einen Gefangenen machen.“ Die Sünde wohnt in uns - oikein, enoikein (Röm 7,17.20). So gross ist die Macht der Sünde über den Menschen, dass sie nicht einfach von aussen an ihm wirkt, sondern in sein innerstes Sein eingedrungen ist und ganz von ihm Besitz ergriffen hat, wie ein Feind ein Land in Besitz nimmt. Das Resultat ist, dass wir „Sklaven der Sünde sind“ - doulos, douleuein (Joh 8,34; Röm 6,17.20; Röm 6,6). Dabei müssen wir daran denken, dass der Herr über seinen Sklaven absolute Gewalt hatte. Es gab keinen Lebensbereich, keinen Augenblick seines Lebens, der persönlicher Besitz des Sklaven war. Er gehörte ganz und gar seinem Herrn. So ist der Mensch vollkommen unter der Herrschaft der Sünde.

Bei Paulus sehen wir die engste Verbindung zwischen „Gesetz“ und „Sünde“, zwischen nomos und hamartia.

1. Das Gesetz lehrt, was Sünde ist (Röm 3,20). In einem gewissen Sinn kann man sagen, dass die Sünde durch das Gesetz entsteht (Röm 5,13). Die Sünde ist nicht Sünde, ehe sie nicht als solche dargestellt ist. Der Mensch kann nicht wissen, was Sünde ist, bevor das Gesetz sie als solche erklärt; wenn es kein Gesetz gäbe, könnte der Mensch keiner Übertretung schuldig werden. Es ist wie mit den Gesetzen eines Landes oder einer Stadt. Eine Strasse einer Stadt mag für lange Zeit in beiden Richtungen befahren sein. Dann erklärt eine Verordnung sie zur Einbahnstrasse. Wer nun durch dieselbe Strasse in falscher Richtung fährt, übertritt das Gesetz. Der Erlass der Verordnung hat die Möglichkeit zur Übertretung geschaffen.

2. Noch in einem anderen Sinn entsteht die Sünde durch das Gesetz. Paulus zeigt uns in Röm 7,8-11, dass etwas Verbotenes immer eine merkwürdige Anziehungskraft besitzt, dass durch das Gesetz die Lust zur Sünde entsteht. Etwas in der menschlichen Natur lässt das Verbotene besonders anziehend erscheinen. Ein klassisches Beispiel ist das Bekenntnis des Augustinus. Dr. Dodd sagt dazu: „Das würde also bedeuten, dass die Begierde zum Stehlen durch das Verbot des Stehlens geweckt wird.“ Gerade hier wird die Begrenzung des Gesetzes in Bezug auf die Sünde sichtbar. Das Gesetz hat zwei Mängel. Es kann die Sünde kenntlich machen, aber nicht beseitigen. Es ist wie ein Arzt, der eine Krankheit feststellen, sie aber nicht heilen, ja nicht einmal hemmen kann. Zum anderen besteht die seltsame und fatale Tatsache, dass durch das Verbot die Dinge anziehend werden. Hier sehen wir die unentwirrbare Verbindung zwischen hamartia und nomos, Sünde und Gesetz.

Es gibt bestimmte unvermeidliche Konsequenzen der Sünde.

1. Sünde bewirkt eine gewisse Verhärtung des Herzens. Das Wort, das hier für Verhärtung gebraucht wird, ist sklerynein (Hebr 3,13). Das Adjektiv skleros kann z. B. für einen Stein gebraucht werden, der besonders hart und daher schwer zu bearbeiten ist; man kann es in bildlicher Weise für einen König anwenden, der seine Untergebenen unmenschlich und hart behandelt. Sünde verhärtet das Herz. In Phil 1,9 sagt Paulus, er bete darum, dass die Philipper Überfluss an aisthesis - rechter Erkenntnis und klarem Verständnis haben mögen. Unser Herz und unsere Sinne sollen empfindsam sein für falsche Dinge. Wir wissen aus Erfahrung, dass der Mensch, wenn er zum erstenmal ein Unrecht begeht, dies mit innerem Widerstreben tut; zum zweitenmal tut er es viel leichteren Herzens. Falls er in diesem Unrecht fortfährt, denkt er sich schliesslich gar nichts mehr dabei. Er hat kein Empfinden mehr für die Sünde; sein Herz ist verhärtet.

2. Sünde hat den Tod zur Folge (Röm 5,12.21; 6,16.23; Jak 1,15). Dies ist in zweifacher Weise wahr. Der Apostel Paulus zeigt, dass der Tod durch die Sünde Adams in die Welt gekommen ist. Die Sünde zerstörte das Leben, das Gott für den Menschen im Sinn hatte. Die Sünde hat aber auch den Tod der Seele im Gefolge. Leiblicher und geistlicher Tod sind, nach Paulus, beide das Resultat der Sünde.

Die wirkliche Bedeutung eines Wortes ergründet man am besten, wenn man die anderen Wörter untersucht, in deren Verbindung es am meisten gebraucht wird. Deshalb wollen wir nun die anderen Begriffe erforschen, mit denen hamartia im NT verbunden ist.

1. Hamartia steht im Zusammenhang mit blasphemia (Mt 12,31). Die Grundbedeutung dieses Wortes ist beleidigen, beschimpfen, lästern. Sünde ist demnach eine Beleidigung Gottes. Es beleidigt Gott, wenn wir seine Gebote verspotten, das eigene Ich an die Stelle zu setzen, die nur ihm gebührt und vor allem, seine Liebe zu kränken.

2. Hamartia steht in Verbindung mit apate (Hebr 3,13). Apate bedeutet Falschheit, Hinterlist, Betrug. Sünde ist immer falsch, sie verspricht etwas, was sie nicht halten kann. Sünde ist immer eine Lüge. Jeder Mensch, der sündigt, der etwas Verbotenes tut oder etwas Verbotenes nimmt, tut es, weil er meint, dadurch glücklicher zu werden. Die Sünde gaukelt ihm dieses Glück vor. Die Erfahrung lehrt aber, dass eine unrechte Tat, oder unrechter Besitz niemals einen Menschen glücklich gemacht haben. Epikur, mit seiner strikten Nützlichkeitsmoral, hat schon im Altertum gezeigt, dass Sünde nie Glück bringt, denn ausser allem anderen bleibt die beständige Furcht vor Entdeckung.

3. Hamartia finden wir im Zusammenhang mit epithymia - Lust, Begehren (Jak 1,15). Aristoteles erklärte epithymia mit „Verlangen nach Vergnügen.“ Die Stoiker fügten dieser Begriffsbe-stimmung hinzu, dass dieses Verlangen „über die Grenzen der Vernunft hinausgeht.“ Clemens von Alexandrien definiert epithymia als den Geist, der „nach Dingen trachtet, die nur seiner eigenen Befriedigung dienen.“ Mit epithymia ist immer die Vorstellung von verbotenem Verlangen verbunden. Epithymein ist das Verb, das in der griechischen Übersetzung des 10. Gebotes gebraucht wird, „Lass dich nicht gelüsten.“ Wenn eines Menschen Herz so gereinigt werden könnte, dass es kein Verlangen mehr nach unrechten Dingen hätte, würde der Mensch nicht mehr sündigen.

4. Hamartia wird gleichgestellt mit anomia (1 Joh 3,4). Anomia bedeutet Gesetzlosigkeit. Die Sünde gibt dem Menschen das Verlangen ein, über die Stränge zu schlagen, sich um Einschränkung und Disziplin nicht mehr zu kümmern, genau das zu tun, was ihm beliebt. Anomia weckt im Menschen das Begehren, seine eigenen Wünsche über seine Pflicht gegenüber anderen zu stellen, ja selbst über den Gehorsam Gott gegenüber. Anomia entspringt im Grunde genommen dem Verlangen, sich selbst und nicht Gott zum Mittelpunkt des Lebens zu machen.

5. Hamartia ist gleichbedeutend mit adikia - Unrecht, Ungerechtigkeit, Verderbtheit (1 Joh 5,17). Es ist das Gegenteil von dikaiosyne - Gerechtigkeit. Dikaiosyne kann erklärt werden mit Gott und Menschen das geben, was ihnen zukommt. Adikia ist dann der Geist, der Gott und Menschen gleicherweise das ihnen Zustehende versagt. Sünde lässt den Menschen sich selbst anbeten und vergisst oder verweigert Gott und den Mitmenschen zu dienen. Der Mensch in der Sünde benimmt sich so, als ob er das wichtigste Wesen im Universum sei.

6. Hamartia steht im Zusammenhang mit prosopolepsia - Ansehen der Person (Jak 2,9). Ansehen der Person kommt durch das Anlegen menschlicher statt göttlicher Massstäbe an die Welt, das Leben und die Menschen im Allgemeinen. Die Sünde akzeptiert die Grundsätze der Welt anstelle der göttlichen Gesetze, sie beurteilt die Dinge so, wie Menschen sie sehen und nicht wie Gott sie sieht.

Wir wollen uns nun dem Heilmittel von hamartia zuwenden. Zu diesem Zweck müssen wir bestimmte Wörter untersuchen, die beschreiben, was Jesus für uns getan hat in Bezug auf die Sünde.

1. Jesus errettet - sozein uns von Sünde (Mt 1,21). Wir sind in der Lage eines Menschen, der gerettet werden muss. Die Rettung ist durch Jesus geschehen und kostete ihn das Leben.

2. Unsere Sünden sind ausgetilgt - exaleiphein (Apg 3,19). Im Altertum enthielt die Tinte keine Säure; man konnte sie daher abwischen, wenn man Pergament oder Papyrus nochmals beschriften wollte. Durch das Werk Jesu wurde unsere Sünde gelöscht, weggewischt.

3. Durch Jesus sind unsere Sünden abgewaschen - apolouein (Apg 22,16). Wir erfahren die Reinigung von Sünde - katharismos (Hebr 1,3; 2 Petr 1,9; 1 Joh 1,7). Unser Leben war beschmutzt und befleckt durch die Sünde; Christus hat die Macht, es zu reinigen, so wie der Regen eine Strasse reinwäscht.

4. Die Gnade Gottes hat einen dichten Schleier über unsere Sünde gedeckt - epikalyptein (Röm 4,7). Das Verb epikalyptein wird benutzt, um auszudrücken, dass ein Weg durch Schnee unkenntlich gemacht wird, dass jemand seine Augen bedeckt, so dass er nicht sehen kann, dass ein Schleier über etwas gezogen wird. Gott zieht in seiner Barmherzigkeit einen Schleier über unsere traurige Vergangenheit und sieht sie nie wieder an.

5. Durch die Gnade Gottes wird uns unsere Sünde nicht angerechnet - logizesthai (Röm 4,8). Logizesthai entstammt dem Wortschatz des Buchhalters, es bedeutet, jemandes Konto belasten. Der Gedanke hier ist der, dass die Sünde uns unwiderruflich in Gottes Schuld gesetzt hat; wir sind unfähig, diese Schuld jemals zu begleichen. Das Hauptbuch des Lebens zeigt unsere unendlich grosse Schuldenlast auf. Aber Gottes grosse Gnade streicht die ungeheure Schuldsumme, die wir niemals zahlen können, aus unserem Konto.

6. Durch das Werk Jesu sind wir von der Sünde befreit - eleutheroun (Röm 6,18.22; 8,2). Wir sind erlöst - lyein (Offb 1,5). Eleutheroun bedeutet jemand seine Freiheit schenken. Lyein bedeutet jemand von seinen Banden losmachen. Wir haben schon gesehen, wie der Mensch zum Sklaven der Sünde wurde, wie er unter die Macht der Sünde geriet. Jesus ist der allmächtige Befreier. Er zahlte das Lösegeld, das uns von der Vergangenheit befreit und gleichzeitig zur Freiheit für die Zukunft befähigt.

7. Das Kommen Jesu hat unsere Sünde aufgehoben, hat sie rückgängig gemacht - athetesis (Hebr 9,26). Athetesis wurde im Griechischen gebraucht, um einen Vertrag oder ein Übereinkommen rückgängig zu machen. Wenn der Buchstabe des Gesetzes ausgeführt würde, hätten wir nichts als Verdammnis zu erwarten. Durch Christus ist unsere Schuld aufgehoben.

8. Durch Christus haben wir Vergebung - aphiesthai. Dies ist das bekannteste Wort, das für Sündenvergebung gebraucht wird. Es kommt in jedem Teil des Neuen Testamentes vor (Mt 9,2; Mk 2,10; Lk 7,47; Apg 2,38; 10,43; KoI 1,14; 1 Joh 2,12). Das Wort aphiesthai weist eine Vielfalt von Bedeutungen auf, und von allen können wir Anregungen empfangen. Es kann gebraucht werden für die Befreiung eines Menschen von einem bereits ausgeführten Urteil, z. B. für die Befreiung aus dem Exil und für die Erlassung einer rechtmässig bestehenden Schuld. Man kann es benutzen für die Lossprechung eines Menschen von einem Urteilsspruch, der anderenfalls ausgeführt worden wäre, für die Befreiung von einer Verbindlichkeit, auf der man hätte bestehen können. Es kann gebraucht werden für das Lossprechen eines Menschen von einer Pflicht, zu deren Ausführung man ihn hätte zwingen können. Die grundsätzliche Bedeutung des Wortes ist unverdiente Befreiung eines Menschen von etwas, was man ihm gerechterweise hätte auferlegen oder von ihm fordern können. Durch Jesus Christus ist der Mensch von der Todesstrafe befreit, die Gott zu Recht hätte vollstrecken können. Das Wort zeigt uns, dass Gott mit uns nicht nach Gerechtigkeit verfährt, sondern in Liebe, dass er nicht nach unserem Verdienst mit uns handelt, sondern der Barmherzigkeit und der Gnade Christi entsprechend.

Es gibt kein Buch, welches das Grauen und die Abscheulichkeit der Sünde so aufzeigt wie das NT, aber es gibt auch kein Buch, das der Rettung und Heilung von der Sünde so gewiss ist.