Begriffe1-13: Hybris – das Wort für Hochmut

Griechische Begriffe 1

13.  Hybris = Hochmut

von William Barclay

 

Die Wörter hybris, hybrizein und hybristes kommen nicht oft im NT vor; aber sie lohnen eine eingehende Untersuchung, denn für die Griechen bezeichneten sie die grösste Sünde, aus der nur Zerstörung und völliger Ruin kommen konnten.

Jene Wörter sind nicht leicht zu übersetzen. Hybris ist ein Substantiv und bedeutet ungerecht-fertigte, rücksichtslose Überheblichkeit. Das Substantiv hybristes beschreibt einen Menschen, der in rücksichtsloser Überheblichkeit handelt. Das Verb hybrizein bedeutet, jemanden mit rücksichtsloser Überheblichkeit behandeln. Der grundsätzliche Gedanke in allen Wörtern ist: Hochmut, der sich gegen Gott und Menschen erhebt. W. G. de Burgh schreibt über hybris: „Seine Grundbedeutung ist ungezügeltes Überschreiten der Grenze, die Überheblichkeit des Triumphes, der Hochmut eines Lebens, das die ungeschriebenen Gesetze Gottes und der Menschen mit Füssen tritt. Hybris ist der griechische Begriff, der dem Wort für Sünde am nächsten kommt. Seine bezeichnendste Anwendung war das unersättliche Verlangen nach Macht, das Menschen und Nationen kopfüber in ungezügelter Selbstherrlichkeit stürzen lässt, als ob sie von einem Dämon besessen wären. Diese blinde Leidenschaft vergewaltigt gleicherweise persönliche Freiheit wie öffentliche Gesetze; sie lockt ihre Opfer in wahnsinniges zerstörerisches Selbstvertrauen, sie erregt nemesis, das Gefühl gerechter Empörung bei den Göttern und Mitmenschen.“ Das grundlegende übel der hybris ist, dass sie den Menschen vergessen lässt, dass er ein Geschöpf, und Gott sein Schöpfer ist. Die Sünde der hybris lässt den Menschen seine Menschlichkeit vergessen und stellt ihn Gott gleich.

Diese Gedanken werden durch den merkwürdigen griechischen Begriff der Missgunst der Götter - phthonos theon betont. Die Griechen hatten die sonderbare Auffassung, dass die Götter den Menschen jegliches Glück und allen Erfolg missgönnten. Diese Gedanken gehen bis auf Homer zurück. Selbst einen guten Ruf der Freundlichkeit und Rechtschaffenheit konnten die Götter den Menschen neiden; denn war nicht Poseidon, der Meeresgott, neidisch auf die Phäaken, weil „sie den Menschen sicheres Geleit gaben“ (Homer, Odyssee 8.566)?

Man kann sagen, dass die ganze frühe griechische Geschichte den Neid der Götter zum Thema hat. Herodot zeichnet das Bild von Xerxes, der eine Invasion Griechenlands plant. Wir lesen dann, wie Artabanus versucht, ihn von seinen ehrgeizigen Plänen abzubringen, die den Neid der Götter hervorrufen müssen: „Du siehst wie Gott die grössten Tiere mit seinem Blitzstrahl schlägt und ihnen nicht erlaubt, sich selbst zu erhöhen, während die kleineren Tiere in keiner Weise seinen Zorn erregen. Denn Gott kann es nicht ertragen, dass jemand ausser ihm hohe Gedanken hat“ (Herodot, 7).

Im Hintergrund des griechischen Lebens stand der Schrecken des Erfolgs, denn Erfolg musste den Neid der Götter erwecken. Zu erfolgreich sein, zu viel Glück haben, hiess Unheil heraufzubeschwören, denn damit setzte man sich unweigerlich dem Neid der Götter aus. Pindar schrieb: „Wenn jemand Reichtum gewinnt und andere an Schönheit übertrifft und sich durch seine Kraft bei den Wettspielen auszeichnet, der soll nicht vergessen, dass er seine Gewänder auf einem sterblichen Leib trägt und dass die Erde sein letztes Gewand sein wird“ (Nem. 11). Die klassische Literatur ist von Anfang bis Ende von dieser Furcht vor dem Neid der Götter durchdrungen und von der Auffassung, dass die grösste Sünde des Menschen darin besteht, sein Menschsein zu vergessen.

Falls all das wahr ist - und für die Griechen war es das Sicherste im ganzen Universum - falls Erfolg gefährlich ist, dann ist Stolz auf den Erfolg tödlich. Und hybris ist dieser Dünkel und überhebliche Stolz, der die Götter vergisst. Das Schlimme an diesem Hochmut ist, dass er immer grösser wird: „Ein alter Hochmut brütet stets einen neuen lebendigen Hochmut aus und vergrössert damit das Elend des Menschen“ (Äschylus, Agamernnon 760).

Diese Angst vor dem Hochmut war dem griechischen Denken eingebrannt. Denn ein Mensch, der vom Erfolg trunken ist, der denkt, dass er sein Leben lenken und jede Situation meistern und sein Glück selbst schmieden kann, ein Mensch, der Gott vergisst, übt hybris. Eine Nation, die die Weltmacht anstrebt, die umfassende Eroberungspläne entwirft und dabei die Götter vollkommen ausser acht lässt, ist der hybris schuldig. Ein Philosoph, der einige natürliche Gesetze erfasst hat und dann denkt, er könne das ganze Universum auch ohne Gott erklären, begeht hybris.

Bisher haben wir die theologische Seite des Wortes hybris im griechischen Denken betrachtet; es hat aber auch eine ethische Bedeutung. Mit anderen Worten, wenn ein Mensch hybris in seinem Herzen hegt, wird das in seiner Haltung seinen Mitmenschen gegenüber zum Ausdruck kommen. In derselben hochmütigen Haltung, in der er Gott begegnet, wird er auch seine Mitmenschen behandeln.

Die Schriftsteller der griechischen Ethik erachteten hybris als die grösste Sünde gegenüber den Mitmenschen. Sie stellten zwei grundsätzliche Elemente darin fest.
1. Ein Mensch, der sich von hybris regieren lässt, wird nicht von der Vernunft, sondern von Leidenschaften beherrscht. Aristoteles macht einen Unterschied zwischen einem massvollen Menschen (sophron), dessen Verhalten von dem Gesetz bestimmt wird und einem, der Ausschreitungen begeht (hybrizein). Ein solcher Mensch gehorcht dem Gebot der Leidenschaft und nicht dem Gesetz und der Vernunft.

2. Für die Griechen war hybris deswegen so schrecklich, weil es einmal einer verächtlichen Anmassung und zum anderen dem reinen Verlangen, andere Menschen zu verletzen, entspringt. Hybris begeht man durch Missachtung anderer (Aristoteles, Nikomachische Ethik 1149). Mit Vorsatz andere beleidigen zu wollen und ihnen Anstoss zu bereiten, ist hybris (Nikomachische Ethik 1125).

Die Griechen machten zwischen drei Dingen einen deutlichen Unterschied. Ärger ist nicht absichtlich, man bricht nicht vorsätzlich in Zorn aus. Rache wird geübt in der Absicht, etwas zurückzuerlangen, sie ist eine Vergeltungsmassnahme. Aber hybris - böswillige Überheblichkeit ist der Geist, der jemand absichtlich, kaltblütig verletzt und dann dasteht und zusieht, wie der andere darunter leidet. Ein solcher Mensch verletzt, um zu verletzen, er beabsichtigt die Demütigung des anderen.

Es ist leicht einzusehen, dass hybris die grausamste aller Sünden für die Griechen war. Sie kommt, wenn man der Leidenschaft erlaubt, über die Vernunft zu siegen, wie Platon es sagte. Aristoteles sah diese Sünde sogar in einem noch trüberen Licht. Für ihn war es reine Verachtung. Ein überheblicher Mensch behandelt seine Mitmenschen wie Fliegen, die er zerquetscht oder ihnen die Flügel ausreisst. Hybris findet reines Vergnügen im Bereiten unnötiger, nutzloser Qual. Für einen Menschen, der von hybris regiert wird, ist es ein Vergnügen zu sehen, wenn eines Menschen Herz verwundet wird und er unter dieser Behandlung zusammenzuckt. Hybris sucht immer die öffentliche Demütigung des betreffenden Mitmenschen. Hybris ist äusserste Schlechtigkeit.

Diese Wörter erreichten einen bestimmten, fast standardisierten Gebrauch in der griechischen Umgangssprache wie auch im NT. Diesen Gebrauch der Wörter wollen wir nun untersuchen.

Im zeitgenössischen allgemeinen Griechisch, in den Papyri, hat diese Wortgruppe eine spezielle Bedeutung und Verbindung. Die Wörter werden durchweg in Verbindung mit beleidigendem, frevelhaftem, demütigendem Verhalten gebraucht. Ein Mann klagt, dass er schwer beschimpft wurde (hybrizein) von einem gewissen Apollodorus. Eine Frau beschuldigt ihren Mann, dass er sie beständig schlecht behandelt, beleidigt, ja sogar körperlich gezüchtigt hat. Ein Mann führt Klage, dass er gebunden, entkleidet und misshandelt wurde. Ein anderer wendet sich an den Kaiser; dieser schreibt zurück: „Dein Bürgerrecht soll in keiner Weise angetastet werden und du wirst keine körperliche Strafe empfangen“ (hybrizein).

Die Worte drücken immer Beschimpfung und abscheuliche Behandlung aus, vor allem eine Behandlung, die öffentliche Beleidigung und Demütigung zum Ziel hat. Eine Stelle aus der Septuaginta in 2. Samuel 10 illustriert die volle Bedeutung dieser Begriffe sehr treffend. In diesem Kapitel wird erzählt, wie Hanun, der König von Ammon, die Kleider der Botschafter Davids halb abschneiden und ihren Bart halb scheren liess und sie so geschändet zu David zurückschickte. Diese Behandlung war hybris. Sie war Beleidigung, Beschimpfung, schmähende Gewalttat und öffentliche Demütigung zusammen.

Nun wollen wir uns dem Gebrauch dieser Worte im NT zuwenden.
1. In einem Falle wird hybris gebraucht für das Unglück, das die Seereise zur Folge hatte, die gegen den Rat des Apostels Paulus unternommen wurde (Apg 27,10.21). In einem anderen Falle beschuldigen die Schriftgelehrten Jesus, er habe sie in anmassender Weise geschmäht (Lk 11,45).

2. Das Wort hybristes, ein Mensch voll rücksichtsloser Überheblichkeit, wird einmal gebraucht, um die charakteristische Sünde der heidnischen Welt zu beschreiben (Röm 1,30). Dort bezeichnet es den Hochmut der Gottlosigkeit.

3. Einmal benutzt Paulus das Wort hybristes, um seine eigene Haltung gegenüber der Gemeinde zu beschreiben, in der Zeit, als er die Christen verfolgte (1. Tim. 1,13). In dieser Zeit fand Paulus ein wildes Vergnügen in der Demütigung und Verletzung der Christen. Kein Wort konnte besser zeigen, welch ein wilder, roher Verfolger Paulus einst gewesen war.

4. Hybrizein wird zweimal für die Behandlung gebraucht, die Paulus auf seinen Missionsreisen von seinen Verfolgern zuteil wurde. Es wird benutzt für das, was in Ikonion (Apg 14,5) und in Philippi (1 Thess 2,2) mit ihm geschah. In der Liste seiner Leiden (2 Kor 12,10) zählt Paulus auch die Dinge auf, die ihm hybris zufügte. Die Christen hatten nicht nur Grausamkeiten zu erdulden, sondern auch öffentliche Demütigungen.

5. Jesus gebraucht das Wort hybrizein für die Behandlung, die er selbst in Jerusalem zu erwarten hatte (Lk 18,32). Jesus wusste, dass die Grausamkeit der Menschen nichts auslassen würde, was ihn verletzen, verwunden, beschimpfen und demütigen konnte.

6. Aber den vielsagendsten Gebrauch finden wir in Matthäus 22,6 wo die ganze Bedeutung der Worte zusammengefasst wird. Hybrizein bezeichnet hier die Haltung der Menschen, die die Boten des Königs misshandelten und töteten. Hier sehen wir das wirkliche Wesen der Sünde. Gott richtet seine Einladung an die Welt, und die Menschen lehnen sie ab; das ist hybris. Das ist der Mensch, der sich gegen Gott erhebt, der Mensch in seinem Hochmut, der Gott trotzt, der Mensch, der vergisst, dass er ein Geschöpf und Gott der Schöpfer ist, der Mensch, der sich in seiner Überheblichkeit von Gott abwendet. Das ist der Mensch, der Gott absichtlich verletzt, denn die Sünde bricht zwar das Gesetz, aber vor allem verletzt sie Gott. Das ist der Mensch, der Gott öffentlich demütigt, denn was kann mehr verletzten und mehr demütigen als eine beständig verschmähte, verachtete, zurückgewiesene Liebe?

Hybris ist eine Verschmelzung von Hochmut und Grausamkeit. Hybris ist der Stolz, der den Menschen Gott trotzen lässt und die überhebliche Geringschätzung, die das Herz der Mit-menschen mit Füssen tritt.