Entstehung-04: Andere Handschriften und Zeugnisse des NTs

Die Bibel – Entstehung und Überlieferung

Neil R. Lightfoot

 

Die vielen neutestamentlichen Handschriften sind über die ganze Welt verstreut. Auch in Deutschland befinden sich einige, z. B. in Berlin, Hamburg, Dresden, Heidelberg und München.

Wir haben gesehen, dass die zur Unzialgruppe zählenden Handschriften die wichtigsten sind. Die drei grossen Unziale sind im wesentlichen die Grundlage unserer neutestamentlichen Bücher. Das bedeutet nicht, dass alle anderen Handschriften und Zeugnisse wenig Wert haben. Ohne die vielen anderen Autoritäten auf diesem Gebiet könnten wir die wirkliche Bedeutung der drei grossen Unziale nicht erkennen. Unsere Aufmerksamkeit wird nun auf andere Einzelheiten gelenkt, die noch mehr Licht auf das Neue Testament werfen.

Wie erwähnt, stammt der Codex Alexandrinus aus dem 5. Jahrhundert. Aus dieser Zeit haben wir noch zwei andere wichtige Handschriften, die erwähnt werden sollten.

Der Codex Ephraemi
Es gab Zeiten, in denen Schreibmaterial schwer zu beschaffen war. Um diesem Mangel abzuhelfen, nahm man im Mittelalter oft alte Pergament, wischte oder schabte die Tinte ab und schrieb dann über die alte Schrift. Diese Art Handschriften nennt man Palimpsest (ein griechisches Wort, es heisst „wieder abgeschabt“). Wir haben heute nicht wenige solcher alten Pergamente, von denen einige mehrmals benutzt wurden. Der Codex Ephraemi ist ein solcher Palimpsest. Die oberste Schrift ist eine Abschrift der Werke des syrischen Kirchenlehrers Ephraem aus dem 12. Jahrhundert, nach dem der Kodex benannt wurde. Die Schrift darunter ist viel wichtiger, denn sie ist eine Abschrift der Bibel aus dem 5. Jahrhundert. Vom Alten Testament fehlt viel, aber vom Neuen Testament sind 145 Blätter erhalten mit allen Büchern ausser dem 2. Thessalonicher Brief und dem 2. Brief des Johannes. Erst im Jahre 1845 wurde eine vollständige Ausgabe dieser Handschrift veröffentlicht. Der Codex Ephraemi wird in der Nationalbibliothek in Paris aufgehoben. Schon allein wegen seines hohen Alters ist er ausserordentlich wertvoll als Zeuge des Neuen Testamentes.

Der Codex Bezae
Im Jahre 1581 schenkte Theodore Beza diesen Kodex der Universität in Cambridge, wo er sich seit dieser Zeit befindet. Er ist die älteste Abschrift der Bibel in zwei Sprachen, griechisch und lateinisch. Der griechische und lateinische Text stehen sich gegenüber. Da die Seiten klein sind (etwa 25 x 20 cm) steht nur eine Kolonne auf einer Seite. Er enthält nur die Evangelien, die Apostelgeschichte und einige Verse der allgemeinen Briefe. Der Codex Bezae ist die ungewöhnlichste der alten Handschriften. Die Zusätze und Auslassungen an manchen Stellen geben ihm eine Sonderstellung. Beza selbst betrachtete seine Handschrift mit Zweifel, wie viele seiner Zeitgenossen. Als die englische King James Übersetzung in Be­arbeitung war, hatte man nur den Codex Bezae als wichtigste Unzialhandschrift zur Verfügung.

Aber wegen der Spekulationen, die ihn umgaben, wurde die Handschrift wenig benutzt. Erst in späteren Jahren erlangte sie, trotz ihrer Eigenarten, die gebührende Beachtung als neutestamentliche Autorität.

Die Kursive

Die Kursive, die eine flüssige Schrift aufweisen, bilden bei weitem die grösste Gruppe unserer Handschriften. Mehr als 2'500 Kursive sind katalogisiert, aber ihr geringes Alter (vom 9. bis 15. Jahrhundert) beschränkt ihren Wert. Trotzdem sind die Kursive Zeugnisse, und manche von ihnen haben viel zur Existenz unseres deutschen Neuen Testamentes beigetragen. Nehmen wir z. B. eine Handschrift, die allgemein als „Königin der Kursive“ (Codex 33) bekannt ist. Obwohl sie aus dem 9. Jahrhundert stammt, ist ihre Textart der des Codex Vaticanus sehr ähnlich und deshalb als Kursive wichtiger als manche Unzialschrift.

Vielleicht das Interessanteste an den Kursiven ist ihr Aussehen. Viele dieser Handschriften haben eine sorgfältig ausgearbeitete künstlerische Gestaltung. Ein Kursivkodex trägt auf seinem Einband oft eine prächtige Prägung: Überschriften und Anfangsbuchstaben sind mit kostbaren Ornamenten ausgeschmückt und der Text mit vielfarbigen Illustrationen. Am häufigsten kehren Bilder der Autoren der Evangelien wieder. Diese Kunst wurde im späten Mittelalter allgemein ausgeübt.

Die Lektionarien oder Lesebücher

Um die Geschichte der neutestamentlichen Handschriften zu vervollständigen, muss folgendes erwähnt werden. In der Zahl dieser Dokumente ist eine Gruppe enthalten, die als Lektionarien­bücher bekannt ist. Ein Lektionarienbuch ist eine Sammlung besonders ausgewählter Schriftstellen, die zum Lesen in öffentlichen Gottesdiensten bestimmt waren. Die meisten dieser Schriftstellen entstammen den Evangelien, der Apostelgeschichte und den Briefen. Es gibt Lektionarienbücher in der Unzial- und Kursivschrift. Man konnte feststellen, dass diese für den öffentlichen Gottesdienst ausgewählten Schriftstellen mit noch mehr Sorgfalt abgeschrieben wurden als die gewöhnlichen Handschriften. Das bedeutet, dass ein Lesebuch aus dem 11. Jahrhundert im allgemeinen dieselbe Bedeutung hat wie ein Kodex aus dem 10. Jahrhundert. Mehr als 1'800 Lektionarienbücher hat man bis jetzt gezählt.

Die Übersetzungen

Wir haben nun einen Überblick über die wichtigsten Quellen des neutestamentlichen Textes. Jetzt kommen wir zur Betrachtung der Übersetzungen, die im Vergleich zu den Handschriften von sekundärer Bedeutung, aber trotzdem wertvolle Zeugnisse sind. Das Evangelium wurde an Pfingsten in verschiedenen Sprachen verkündigt. Es wurde niedergeschrieben, und nachdem die apostolischen Schriften unter den frühen Christen in Griechenland Verbreitung gefunden hatten, war der nächste Schritt die Übersetzung dieser Botschaften in andere Sprachen. Einige dieser Übersetzungen wurden sehr bald nach dem Entstehen des Neuen Testamentes gemacht und vermitteln aus diesem Grunde wertvolle Kenntnis des neutestamentlichen Textes.

Die syrische Übersetzung
Syrisch war die Hauptsprache in Syrien und Mesopotamien und ist fast identisch mit dem Aramäischen. Die syrische Übersetzung war zweifellos eine der ältesten, denn sie konnte nicht nur von den Juden benutzt werden, die kein Griechisch verstanden, sondern auch von den Einwohnern Mesopotamiens, wo nach der Geschichte das Evangelium vor dem Ende des ersten Jahrhunderts Eingang fand.

Die alt-syrische Übersetzung. Erst seit etwa 100 Jahren weiss man, dass eine solche frühe Übersetzung der Bibel bestand. Es gibt zwei Haupthandschriften im Alt-Syrischen: die Curetonisch-syrische und Sinaitisch-syrische Handschrift. Die Curetonische ist eine Abschrift der Evangelien aus dem fünften Jahrhundert, bestehend aus 80 Blättern. Sie ist nach Dr. Cureton vom Britischen Museum benannt, der im Jahre 1848 nachwies, dass der Text dieser Handschrift älter ist als der der bis dahin bekannten Handschriften.

Das andere wichtige Zeugnis des Alt-Syrischen ist die Sinaitisch-syrische Abschrift der Evangelien, eine Handschrift, die erst 1892 in einer Palimpsesthandschrift des 4. und 5. Jahrhunderts im Sinaikloster entdeckt wurde. Etwa ein Viertel davon ist nicht zu entziffern. Sie wird für etwas älter als der Kodex Curetonianus gehalten und ist das wichtigste alt-syrische Dokument. Die zwei alt-syrischen Zeugen sind wirklich wertvoll, denn sie wurden von einem Text abgeschrieben, der offensichtlich aus dem 2. Jahrhundert stammte.

Die Peschitta. Das Wort Peschitta bedeutet „einfach“ oder „allgemein“ und bezieht sich auf die massgebende syrische Übersetzung, die seit dem 5. Jahrhundert im Gebrauch war. Es gibt etwa 250 Handschriften der Peschitta, aber ihr Zeugnis ist nicht so bedeutungsvoll wie das der alt-syrischen Übersetzung.

Die lateinischen Übersetzungen
Sie sollten für uns von besonderem Interesse sein. Luther benutzte für seine deutsche Bibelübersetzung die lateinische Version des Hieronymus, daneben aber auch das griechische Neue Testament des Humanisten Erasmus. Auch der ersten englischen Übersetzung lag die lateinische Bibel zugrunde, die in ganz Westeuropa benutzt wurde.

Die alte lateinische Übersetzung. Sie wurde ursprünglich im 2. Jahrhundert angefertigt, wahrscheinlich um das Jahr 150. Die ältesten vorhandenen Abschriften entstanden etwa in der gleichen Zeit wie die Codices Vaticanus und Sinaiticus; etwa 20 von diesen und einige Fragmente sind erhalten. Da die alte lateinische Übersetzung bis fast in die Zeit zurückdatiert, in der die letzten Bücher des Neuen Testamentes geschrieben wurden, ist sie bei weitem die wichtigste der lateinischen Fassungen.

Die lateinische Vulgata. Bis zum 4. Jahrhundert war die alte lateinische Übersetzung oft abgeschrieben worden und hatte sich im Westen weit verbreitet. Aber nicht bei allen Abschriften hatte man die nötige Sorgfalt walten lassen; es musste deshalb unbedingt etwas geschehen, um die Bibel des Westens von Verfälschungen freizuhalten. Es musste eine Revision zustande kommen, die als autorisierte Standardbibel der lateinisch sprechenden Welt anerkannt werden konnte. Im Jahre 382 gelang es Damasus, dem Bischof von Rom, den Kirchenvater Hieronymus hierfür zu gewinnen. Glücklicherweise war Hieronymus ganz besonders befähigt für diese Arbeit. Er begann seine Überarbeitung nur zögernd, wohl wissend, dass viele Menschen Einspruch erheben würden gegen seinen Versuch, die umlaufende Übersetzung zu korrigieren, auch wenn die Korrektur mit früheren anerkannten Texten übereinstimmte. Im Jahr 384 war Hieronymus mit der Überarbeitung der Evangelien fertig und vollendete später auch das ganze Neue Testament. Wie erwartet, fand seine Arbeit zuerst keine Anerkennung, vor allem bei solchen Leuten nicht, die (nach Hieronymus) „Unkenntnis mit Heiligung“ gleichsetzten. Gleichwohl erwies sich seine Arbeit nicht so revolutionär, wie er es selber gerne gesehen hätte. Was Hieronymus schliesslich zustande brachte, war eine Revision einer bestimmten Form der altlateinischen Übersetzung und nicht eine vollkommen unabhängige Übersetzung aus dem Griechischen (vergleichbar: die revidierte Lutherübersetzung 1984 mit dem alten Luthertext).

Wie dem auch sei, die Ausgabe des Hieronymus wurde innerhalb weniger Jahre die autorisierte Standardbibel, die Damasus hatte schaffen wollen. Die Folge war eine 1'000 jährige Vorrang­stellung der Vulgata im Westen. Ebenso wie im Osten die Schriftgelehrten sich bemühten, das Wort Gottes sorgfältig in Griechisch zu überliefern, versuchten westliche Schriftgelehrte genauso gewissenhaft, das Wort Gottes in lateinischer Sprache zu erhalten. Der fieberhafte Fleiss der westlichen Schreiber zusammen mit der Ausdehnung der römisch-katholischen Kirche führte dazu, dass es weitaus mehr Abschriften des Neuen Testamentes der lateinischen Vulgata gibt (vielleicht 10'000) als von dem griechischen Urtext.

Der Einfluss des Hieronymus auf unsere Bibel ist also kaum zu überschätzen, denn für über 1'000 Jahre gründete sich jede Übersetzung der Schrift auf Hieronymus’ Vulgata. Sogar als man den Übersetzungen wieder die griechischen Handschriften statt der lateinischen zugrunde legte, übte die Vulgata noch ihren Einfluss aus. Auch auf die Lutherübersetzung hatte die Vulgata eine weitaus grössere Wirkung als gemeinhin angenommen wird.

Schliesslich wurde Hieronymus’ Vulgata die offizielle Bibel der römisch-katholischen Kirche und ist es bis auf den heutigen Tag geblieben. Bis vor kurzem waren alle römisch-katholischen Bibeln eigentlich Übersetzungen von Übersetzungen und nicht, wie die meisten protestan­tischen, Übersetzungen aus der ursprünglichen Sprache.

Andere Übersetzungen
Zahlreiche andere Übersetzungen - die ägyptische, die aramäische, die gotische, die äthiopische und arabische - erschienen in den frühen Jahrhunderten des christlichen Zeitalters. Einige von ihnen waren schon allgemein in Gebrauch, bevor unsere frühesten Pergamentunziale hergestellt wurden. Die Kenntnis von diesen Übersetzungen ist das Resultat jüngerer Untersuchungen. Tatsächlich findet man immer noch neues Material, das noch entziffert und ausgewertet werden muss. Von diesen Übersetzungen können wir keine Änderungen unseres Textes erwarten, wohl aber Informationen, die zusätzliche unabhängige Zeugnisse unserer frühen Unzialtexte darstellen.

Die Apostolischen Väter

Ein anderer grosser Segen für die Geschichte der Bibel ist die Literatur früher Christen, die als die Apostolischen Väter bekannt sind. Diese christlichen Schreiber lebten um das Ende des ersten Jahrhunderts und kurz danach. Einige ihrer Schriften sind erhalten und angefüllt mit Zutaten der neutestamentlichen Schriften. Diese Männer, die vor langer Zeit lebten, besassen natürlicherweise ältere Schriften als unsere heutigen Handschriften sind. Ihre Zitate geben vielfältigen Aufschluss über die alte Bibel der ersten Christen.

Zusammenfassung

In dieser Lektion wurden zwei weitere wichtige Unzialhandschriften besprochen. Zusammen ergibt das fünf Unzialpergamente aus dem 4. und 5. Jahrhundert: der Codex Vaticanus, der Codex Sinaiticus, der Codex Alexandrinus, der Ephraemi Palimpsest und der Codex Bezae. Diese griechischen Handschriften zusammen mit zahlreichen sie unterstützenden Unzialen und Kursiven sind die Hauptquellen für das griechische Neue Testament. Es gibt zwei Typen von sekundärem Quellenmaterial: die alten Versionen oder Übersetzungen und die Zitate der Apostolischen Väter. Die wichtigsten frühen Übersetzungen im Osten waren die syrische, die alt­syrische und die Peschitta. Von letzterer gibt es mehr Handschriften, während die erstere als Textzeuge wichtiger ist. Die vorherrschende Übersetzung im Westen war die lateinische des Hieronymus. Seine Vulgata war die Standardbibel Westeuropas für mehr als 1000 Jahre. Obwohl sie teilweise auf dem griechischen Text basiert, sind die altlateinischen Übersetzungen von grösserem Wert. Die Schriften der Apostolischen Väter sind wertvoll wegen ihrer häufigen Zitate der neutestamentlichen Briefe.

 

Arbeitsblatt 4: Zum Einprägen

 

Bitte beantworten Sie die folgenden Fragen anhand der Lektion und senden Sie das ausgefüllte Arbeitsblatt an die Kontaktadresse: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

 

 

1. Nennen Sie zwei (weitere) Handschriften aus dem 5. Jahrhundert! Welche von ihnen ist eine Palimpsesthandschrift?


2. Was ist eine Palimpsesthandschrift?


3. Erklären Sie, was ein Lektionarienbuch ist! Welchen Wert hat ein Lektionarienbuch im Vergleich zu anderen Handschriften?


4. Nennen Sie die zwei alt-syrischen Haupthandschriften! Was ist der Unterschied zwischen dem Alt-Syrisch und dem Peschitta-Syrisch?


5. Welche Bedeutung haben die lateinischen Zeugnisse, besonders die Vulgata? Erzählen Sie über die Arbeit des Hieronymus an der lateinischen Vulgata.


6. Wer sind die Apostolischen Väter? Wieso können sie Kenntnis über den neutestamentlichen Text vermitteln?