Entstehung-06: Die Bedeutung der textlichen Verschiedenheiten

Die Bibel – Entstehung und Überlieferung

Neil R. Lightfoot

 

Der neutestamentliche Text ist uns durch die Abschreiber überliefert worden. Diese Schreiber waren menschlichen Irrtümern ausgeliefert wie alle Menschen. Um Fehler zu vermeiden, hätte Gott jedes Mal, wenn ein Schreiber Tinte und Feder in die Hand nahm, ein Wunder wirken müssen.

Die Anzahl der Varianten oder Abweichungen

Angenommen, jemand würde sagen, es seien 200’000 Fehler im Neuen Testament! Was wäre unsere Antwort? Wir würden doch fragen, ob diese Zahl stimmt und falls ja, wie wir dann sicher sein können, dass wir die ursprüngliche Botschaft des Neuen Testamentes haben.

Von einem Standpunkt aus kann man sagen, dass die Abschreiber tatsächlich 200’000 Fehler in den Handschriften verursachten. Aber es ist vollkommen irreführend und unwahr zu sagen, dass es 200’000 Fehler in dem Text des Neuen Testamentes gibt. Diese hohe Zahl wurde durch das Zählen aller Varianten in allen Handschriften (etwa 4’500) erreicht. Das heisst, falls z. B. ein Wort in 4’000 Handschriften falsch buchstabiert wurde, dass dann 4’000 Fehler gezählt werden. In Wirklichkeit wurde in diesem Fall ein leichter Fehler gemacht und 4’000 mal abgeschrieben. Auf diese Art kam aber die grosse Zahl von 200’000 Fehlern zustande. Jemand, der diese grosse Zahl von Varianten benutzt, um unseren Glauben an das Wort Gottes zu untergraben, muss entweder unwissend sein oder nicht bereit, ehrlich zu prüfen.

In diesem Zusammenhang muss eine andere Tatsache unterstrichen werden. Die grosse Zahl von Varianten steht in einem genauen Verhältnis zu der Zahl der Handschriften, die wir besitzen. Es gibt viel mehr Abschriften des Neuen Testamentes als von irgendeinem Buch des Altertums. Und weil wir mehr Handschriften des Neuen Testamentes haben, gibt es auch mehr Varianten. Angenommen, wir hätten nur zehn Handschriften. In einer solch kleinen Anzahl wäre auch die gesamte Zahl der Abweichungen sehr gering. Aber wenn wir nur zehn Handschriften hätten, stände der neutestamentliche Text nicht auf so sicherem Grunde, wie es tatsächlich der Fall ist. Wenn die grosse Zahl der Handschriften die Zahl der Varianten erhöht, liefert sie gleichzeitig auch die Mittel, sie zu untersuchen.

Die Wirkung der Varianten

Welche Bedeutung haben die Varianten? Welches Gewicht haben sie für die neutestamentliche Botschaft und den Glauben? An dieser Stelle wird es hilfreich sein, drei Arten von Textver­schiedenheiten zu zeigen, aufgeteilt nach ihrer Bedeutung für unseren gegenwärtigen neutesta­mentlichen Text.

Unbedeutende Varianten, die keine Auswirkungen auf den Text haben. Die grosse Mehrheit der verschiedenen Lesarten in den Handschriften ist unbedeutend; viele sind so geringfügig, dass sie in Übersetzungen nicht wiederzugeben sind. Öffnen wir den griechischen Text an einer beliebigen Stelle, um dies zu veranschaulichen. Wir können dieselbe Seite nehmen, die wir vorher benutzten, um das Für und Wider des Wortes „Werke“ in Matthäus 11,19 zu erörtern. Auf dieser kleinen Seite erscheinen 13 Verse (Matthäus 11,10-23). Ein kurzer Blick auf das Ende der Seite zeigt uns, dass neun verschiedene Lesarten angezeigt sind. Im ersten Augenblick scheint diese Tatsache alarmierend zu sein. Alle anderen Varianten auf dieser Seite ausser „Kinder“ oder „Werke“ sind jedoch unbedeutend. Fünf der neun Varianten betreffen Auslassungen oder Hinzufügungen von Wörtern wir „für“, „und“, „der, die, das“ usw.; und die anderen haben es lediglich mit griechischer Rechtschreibung zu tun. An keiner Stelle ergibt sich ein wirkliches Problem des Textes, mit Ausnahme der Alternative „Kindern“ und „Werken“, und auch dieses Problem ist, wie wir gesehen haben, ziemlich leicht zu lösen.

Diese Seite mit ihren Varianten ist typisch für die Art der Fehler, die in den Abschriften zu finden sind. Sehr oft änderte sich im Laufe der Jahrhunderte die griechische Rechtschreibung ein wenig, was nicht verwunderlich ist, wenn man daran denkt, wie sich unsere deutsche Sprache im Laufe der letzten Jahrhunderte geändert hat. Man braucht nur eine Abschrift der ersten Ausgabe von Luthers Bibel in die Hand zu nehmen, um sehr schnell zu sehen, welche grossen Änderungen die Sprache in wenigen Jahrhunderten erfahren hat. Und diese Veränderungen traten auf, obwohl die Buchdruckerkunst eine gewisse Stabilisierung der Sprache mit sich brachte. In ähnlicher Weise änderte sich auch die griechische Sprache, und die Schreiber änderten natürlich die Schreibweise mancher Wörter, um sie auf den neusten Stand zu bringen. Varianten der Grammatik und des Wortschatzes sind auf die gleiche Weise zu erklären. Manchmal ist auch eine Abweichung nicht mehr als eine Änderung der Wortstellung, wie „der Herr Jesus Christus“ statt „Christus Jesus, der Herr“. In allen derartigen Fällen steht uns eine Fülle von Informationen zur Verfügung, mit deren Hilfe wir sogar in nebensächlichen Dingen eine sichere Entscheidung in Bezug auf den Originaltext treffen können. Auch wenn wir diese Informationen nicht hätten und in Bezug auf Rechtschreibung und Wortstellung völlig im Dunkeln tappten, wären wir trotzdem nicht in Gefahr, die göttlichen Offenbarungen zu verlieren.

Wesentliche Unterschiede ohne Folgen für den Text. Wir wollen nicht den Eindruck hinter­lassen, als ob man alle Textvarianten leicht abtun könnte. Einige beziehen nicht nur ein oder zwei Wörter ein, sondern einen oder sogar mehrere Verse. Es soll jedoch gleich hinzugefügt werden, dass diese wesentlichen Varianten keinen Einfluss auf unseren heutigen Text haben, da sie von den meisten massgebenden Textzeugen nicht unterstützt werden.

Wir wollen an einigen Beispielen erklären, was hier gemeint ist. In Lektion 4 sprachen wir bereits über den Codex Bezae aus dem 5. Jahrhundert. Diese Handschrift zeigt oft eigenartige Lesarten auf. Eine davon finden wir in Lukas 6,5: „An demselben Tag, einem Sabbat, sah er einen Mann arbeiten und sprach zu ihm: ‘Mann, wenn du weisst, was du tust, bist du gesegnet; aber wenn du es nicht weisst, bist du verflucht und ein Übertreter des Gesetzes’.“ Diese seltsame Aussage ist in keiner anderen Handschrift und keiner Übersetzung enthalten. Sie ist ohne Zweifel eine wesentliche Abweichung, aber sie war sicher kein Teil von Lukas’ ursprünglichem Evangelium. Sie ändert unseren Text in keiner Weise, denn die moderne Textforschung lehnt diese Lesart ab.

Bei einer bekannten Stelle können wir dasselbe Prinzip beobachten. Die Geschichte der Ehebrecherin in Johannes 7,53 bis 8,11 steht in fast allen neueren Übersetzungen, wie der Elberfelder, der Zürcher und dem revidierten Luthertestament in Klammern, und Fussnoten sagen, dass diese Begebenheit in den ältesten Handschriften nicht enthalten ist. Hier liegt also eine bedeutende Variante vor, denn sie umschliesst eine ganze Reihe von Versen.

Warum betrachten die jüngeren Übersetzer diese Verse mit Misstrauen? Die Antwort ist einfach: keine frühe Handschrift, mit einer Ausnahme, und keine der frühen Übersetzungen enthält diese Geschichte von der Ehebrecherin. Das einzige frühe Dokument, das die Begebenheit berichtet, ist der Codex Bezae, der für seine seltsame Lesart bekannt ist, wie wir schon in Lukas 6,5 gesehen haben. In anderen Handschriften vor dem 8. Jahrhundert ist die Geschichte nicht zu finden. Ausserdem befinden sich in Handschriften, die die Geschichte berichten, Randbe­merkungen, die die Echtheit des Textes bezweifeln; andere setzen diesen Teil an das Ende des Johannesevangeliums, wieder andere bringen ihn im Lukasevangelium nach Lukas 21,38. Auf jeden Fall waren durch alle Jahrhunderte schwere Zweifel in Bezug auf diese Stelle vorhanden. Aber lassen diese Zweifel unseren Text fraglich erscheinen? Sicherlich nicht. So, wie wir im Vertrauen auf die ältesten Handschriften die Lesart „Werke“ statt „Kinder“ akzeptieren, so können wir hier aufgrund der gleichen Dokumente die Geschichte von der Ehebrecherin aus unserem Text ausschliessen. Woher kam diese Geschichte? Niemand weiss es, vielleicht wurde sie mündlich von den ersten Gemeinden überliefert. Unsere ältesten Handschriften leugnen nicht die Wahrheit in der Begebenheit, sagen aber, dass die Geschichte selbst kein Teil des Originaltextes war.

Der Fall vom 1. Johannes 5,7-8 ist weniger umfassend. Im Luthertext steht an dieser Stelle: „Denn drei sind, die da Zeugnis geben: der Geist und das Wasser und das Blut, und diese drei sind zusammen.“ Eine Fussnote sagt, dass die in früheren Bibelaussagen Vers 7 und 8 stehenden weiteren Worte: „Drei sind, die da zeugen im Himmel: der Vater, das Wort und der Heilige Geist und diese drei sind eins“, im griechischen Text nicht vorhanden sind.

Auch die Zürcher Übersetzung und andere tragen diesen Vermerk. Die Textbeweise sind fast alle gegen diesen Zusatz. Es gibt nur zwei griechische Handschriften, die diese Stelle enthalten. Eine davon stammt aus dem 14. oder 15. Jahrhundert, die andere aus dem 16. Jahrhundert, und in beiden Handschriften ist klar ersichtlich, dass diese Stelle eine Rückübersetzung aus dem Lateinischen ist.

Das sind Beispiele von bedeutungsvollen Varianten, aber aus Mangel an Zeugnissen haben sie keinen Einfluss auf unseren heutigen Text, und sie sind daher entweder in unserer Bibel nicht enthalten oder besonders markiert.

Wesentliche Abweichungen, die ihre Wirkung auf den Text haben. Was noch zu betrachten übrigbleibt, ist eine Gruppe von Lesarten, die in mancher Hinsicht Fragen über unseren Text auf­wirft. Es wäre einfach, diese Stellen gar nicht zu beachten. Aber Unkenntnis von Tatsachen schafft die Probleme nicht aus der Welt.

Die letzten zwölf Verse im Markusevangelium sind von allgemeinem Interesse und ein gutes Beispiel für wesentliche Varianten, die unseren Text beeinflussen. Die meisten neueren Über­setzungen haben diese Verse in Klammern gesetzt oder geben in Fussnoten bekannt, dass dieser Teil ursprünglich nicht zum Markusevangelium gehörte. Ob der ursprüngliche Schluss verlorenging oder Markus absichtlich an dieser Stelle abgebrochen hat, wissen wir nicht. Jeden­falls bestehen über den Schluss dieses Werkes Zweifel.

Das Problem von Markus 16 ist einmalig in seiner Art. Im Falle von 1. Johannes 5,7 und Johannes 7,53 - 8,11 ist kein wirkliches Problem zu sehen - alle massgebenden Beweise zeigen in die gleiche Richtung. Dies ist mit Markus 16 nicht so - die Beweise zeigen scheinbar in zwei Richtungen. Die Zeugnisse gegen Markus 16,9-20 stützen sich meistens auf den Codex Vaticanus und den Codex Sinaiticus. Diese zwei Unziale aus dem 4. Jahrhundert sind unsere besten Handschriften und stehen einzig da als Textzeugen. Die Handschriften, auf die wir uns am meisten verlassen, enthalten also diese letzten Verse in Markus nicht. Ein bedeutender Beweis gegen Markus 16 ist auch die älteste bekannte Handschrift der alt-syrischen Über­setzung.

Zugunsten von Markus 16,9-20 gibt es eine grosse Zahl von Zeugnissen: den Codex Alexandrinus, den Codex Ephraemi, den Codex Bezae, andere frühe Unziale, alle späteren Unziale und Kursive, fünf alt-lateinische Quellen und die Vulgata, eine alt-syrische Handschrift, die syrische Peschitta und viele andere Übersetzungen. Ausserdem gibt es eine klare Aussage von Irenaeus, einem frühen christlichen Schreiber, der deutlich die Existenz von Markus 16,9-20 im 2. Jahrhundert bezeugt und die Überzeugung vertritt, dass Markus der Autor dieser Verse ist.

Das sind, kurz gesagt, die negativen und die positiven Einzelheiten über Markus 16,9-20. Auf der einen Seite steht die unvergleichbare Zuverlässigkeit der Codices Vaticanus und Sinaiticus, auf der anderen Seite stehen fast alle anderen Zeugnisse. Welches auch immer die richtige Ansicht sein mag, ist es wichtig zu sehen, dass die Wahrheit dieser Bibelverse nicht umstritten ist. Die Hauptgedanken aus Markus 16,9-20 sind auch an anderen Stellen aufgezeichnet, so dass die Gefahr, eine göttliche Offenbarung zu verlieren, nicht gegeben ist. Die verschiedenen Lesarten in unseren Handschriften sind nicht so, dass sie unseren Glauben bedrohen.[1]

Mit Ausnahme weniger Beispiele ist unser Text unantastbar, und auch dort ist in keinem Fall eine grundsätzliche Lehre oder ein Gebot des Herrn betroffen. In der nächsten Lektion wollen wir weitere Textbeweise behandeln.

Zusammenfassung

In den Handschriften existiert eine grosse Zahl von Varianten; aber in dieser Zahl sind alle Varianten aller Handschriften enthalten. Wenn man das weiss, ist die grosse Zahl textlicher Unterschiede nicht erschreckend. Die meisten Varianten sind geringfügige Einzelheiten, entweder offensichtliche Fehler, die beim Abschreiben entstanden, oder leichte Änderungen der Rechtschreibung, der Grammatik, der Wortstellung usw. Diese haben keinen Einfluss auf den Text. Andere Abweichungen könnten bedeutend sein, sie haben aber keine Unterstützung durch die früheren Textautoritäten. Einige Varianten bieten Probleme für unseren heutigen Text, die zum Teil zu lösen sind. Die wenigen, die fraglich bleiben, geben keinen Anstoss für unseren Glauben.

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[1] Vielleicht trifft folgende Annahme den Sachverhalt am besten: Markus schloss ursprünglich seinen Bericht mit Vers 8 ab, da er ihn später ausführlicher zu Ende schreiben wollte. Aus uns nicht mehr bekannten Gründen kam er jedoch davon ab und verfasste deshalb die abschliessenden Verse 9-20.

 

Arbeitsblatt 6: Zum Einprägen

 

Bitte beantworten Sie die folgenden Fragen anhand der Lektion und senden Sie das ausgefüllte Arbeitsblatt an die Kontaktadresse: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

 

 

1. Wie lässt sich die grosse Zahl (200'000) von Varianten in den neutestamentlichen Handschriften erklären?


2. Wie kommt man zu dieser Zahl?


3. Nennen Sie einige Beispiele von unbedeutenden Textvarianten.


4. Warum ist in neueren Bibelübersetzungen die Geschichte von der Ehebrecherin in Frage gestellt?


5. Was ist das Problem von Markus 16?


6. Könnte dieses Problem ein Hindernis für unseren Glauben sein?


7. Fragen oder Anregungen?