Entstehung-08: Der Text des Alten Testamentes

Die Bibel – Entstehung und Überlieferung

Neil R. Lightfoot

 

In den vorhergehenden Lektionen haben wir eingehend über die Überlieferung des griechischen Textes des Neuen Testamentes gesprochen. Es soll noch einmal die grosse Bedeutung des griechischen Textes betont werden, denn ohne ihn hätten wir keine Grundlage für unsere deutschen Bibelübersetzungen. Es gäbe keine zuverlässige deutsche Übersetzung ohne einen genauen griechischen Text. Wir haben gesehen, dass keine ernsthaften Einwände gegen unseren griechischen Text erhoben werden können. Das bedeutet, dass unser Glaube, aufge­baut auf die Botschaft des Neuen Testamentes, auf sicherem Grunde steht.

Unsere nächste Aufgabe ist es nun, uns mit dem Text des Alten Testamentes zu beschäftigen. Es ist nicht notwendig, die Fragen über den Text des Alten Testamentes in aller Ausführlichkeit zu behandeln, denn die Regeln, nach denen man bei der Rekonstruktion des neutesta­mentlichen Textes arbeitet, finden gleicherweise Anwendung auf den alttestamentlichen Text.

Im Vergleich zu der umfassenden Zahl der griechischen Textzeugen haben wir für den alttesta­mentlichen Text weit weniger Einzelheiten, die auch nicht so eindrucksvoll sind. Wir besitzen Handschriften des Neuen Testamentes aus dem 4. Jahrhundert, und einige Papyrusdokumente sind sogar noch älter. Das meiste noch vorhandene Material des Alten Testamentes ist jedoch nicht so alt. Die frühesten hebräischen Handschriften sind der Prophetenkodex von Kairo und der Kodex von Leningrad. Der Kodex von Kairo enthält die frühen und späten Propheten und stammt aus dem Jahre 895 n. Chr. Die älteste bekannte Handschrift des ganzen Alten Testamentes ist der Kodex von Leningrad, der im Jahre 1008 n. Chr. vollendet wurde. Eine andere alte hebräische Handschrift ist der Pentateuchkodex des Britischen Museums. Dieser Kodex ist ein sehr wichtiger Zeuge des alttestamentlichen Textes, stammt jedoch erst aus dem 10. und 11. Jahrhundert. Natürlich gibt es noch eine Anzahl anderer Handschriften, aber die genannten sind die grundsätzlichen Textzeugen des Alten Testamentes. Die verbreitete Ausgabe der hebräischen Bibel (Kittels Biblica Hebraica) basiert auf diesen hebräischen Handschriften, vor allem auf dem Leningrader Kodex, der das ganze Alte Testament umfasst.

Man mag sich fragen, warum die Abschriften der hebräischen Bibel so jung sind im Vergleich zu dem neutestamentlichen Material, vor allem, weil ja das Alte Testament mehrere Jahrhunderte vor dem Neuen Testament vollendet wurde. Die Antwort hierauf ist nicht schwer zu finden. Die jüdischen Schreiber betrachten ihre Abschriften der Heiligen Schrift mit fast abergläubischem Respekt, was sie dazu führte, jede Abschrift, die alt und verbraucht war, feierlich zu begraben. Der Grund für diese Handlungsweise war, einen unschicklichen Gebrauch des Materials, auf dem der heilige Name Gottes geschrieben stand, zu verhindern. Wie edel ihre Absicht auch war, so hat dieser Brauch uns doch der alten hebräischen Handschriften beraubt, die wir unter anderen Umständen vielleicht haben könnten. Auf diese Weise wurde der Zeitraum zwischen den verfügbaren Abschriften und den ursprünglichen Schriften vergrössert.

Die Massoreten

Bevor wir den gegenwärtigen Stand des alttestamentlichen Textes betrachten können, ist es notwendig, noch etwas über seine Geschichte zu sagen. Vor der Erfindung des Druckens wurden die alttestamentlichen Schriften durch Abschreiben weitergegeben, wobei es unver­meidlich war, dass Veränderungen entstanden. Vor allem war das der Fall beim Abschreiben der hebräischen Handschriften, wegen der mit der hebräischen Sprache verbundenen Schwierig­keiten. Nicht wenige Buchstaben des hebräischen Alphabets sehen sich sehr ähnlich, was manchmal zu Verwechslungen kleiner Einzelheiten im Text führte. Ein Beispiel dazu ist der bekannte Name Nebukadrezar, eine Form, die wissenschaftlich genauer ist als die bekanntere Form Nebukadnezar. Die zwei Namen beziehen sich offensichtlich auf die gleiche Person, aber die Ähnlichkeiten der hebräischen Buchstaben „r“ und „n“ ergab diesen Unterschied.

Schon sehr früh entstanden verschiedene Zirkel jüdischer Gelehrter, die davon besessen waren, die Buchstaben des Gesetzes zu hüten. Sie erkannten, dass beim Abschreiben immer Fehler entstehen können und widmeten sich daher der Erhaltung des genauen alttestamentlichen Textes. Hier stehen an erster Stelle die Massoreten. Ihr Hauptsitz war in Tiberias und entstand etwa um 500 n. Chr. Obwohl sie bei weitem nicht die älteste solcher Schulen war, ist sie doch für die Geschichte des hebräischen Textes die bedeutendste.

Die Massoreten werden so genannt wegen ihrer bewussten Abhängigkeit von der massgeben­den Tradition des hebräischen Bibeltextes (Massora). Ihre Bemühungen erstreckten sich über vier oder fünf Jahrhunderte, und ihr Beitrag ist vielfältig. Es war die Aufgabe der Massorten, die nur noch im Gottesdienst gebrauchte hebräische Sprache zu reinigen und den genauen Wortlaut des inspirierten Wortes festzustellen. Sie stützten sich dabei auf den im 1. Jahrhundert n. Chr. von der Synode von Jamnia anerkannten Text. Sehr bekannt wurden die Massoreten durch ihre Vokalisation des hebräischen Konsonantentextes und die Setzung von Akzentzeichen. Bekanntlich sind ja alle Buchstaben des hebräischen Alphabets Konsonanten. Das Alte Testament war also ursprünglich ohne Vokale geschrieben. Als schliesslich Hebräisch nicht mehr länger gesprochen wurde, war die Gefahr gross, dass die richtige Aussprache des Textes verlorengehen würde. Um dieser Gefahr zu begegnen und gestützt auf ihre gut erhaltende Tradition, setzten die Massorten Punkte für die entsprechenden Vokale über und unter die Textzeilen. Es muss jedoch betont werden, dass sie den Text selbst nicht antasteten, die Punkte waren nur Hilfsmittel, um die korrekte Aussprache des Textes zu sichern.

Die Massoreten waren aber nicht nur besorgt um die Einzelheiten der richtigen Aussprache. Sie suchten auch Wege und Methoden, mit deren Hilfe sie Auslassungen und Hinzufügungen ausmerzen konnten. Das erreichten sie durch schwierige Zählverfahren. Sie nummerierten die Verse, Wörter und Buchstaben jedes Buches. Sie notierten Verse, die alle Buchstaben des Alphabets enthielten oder eine bestimmte Anzahl von Buchstaben etc. Sie berechneten den mittleren Vers, das mittlere Wort und den mittleren Buchstaben jedes Buches (der mittlere Vers des Pentateuch ist 3. Mose 8,7, der mittlere Vers der hebräischen Bibel Jeremia 6,7). Einige dieser Notizen kann man in gedruckten hebräischen Bibeln noch finden. Mit Hilfe dieser und anderer Vorsichtsmassnahmen konnten die Schreiber nach Vollendung eines Buches die Genauigkeit ihrer Arbeit überprüfen, bevor das Buch in Gebrauch genommen wurde. Dies veranschaulicht kurz die Wichtigkeit der Arbeit der Massorten, die Textforscher ersten Ranges waren. Sie prüften sorgfältig alles ihnen zur Verfügung stehende Textmaterial. Gestützt auf ihre vielen Beweisstücke schrieben sie den Text, den ihre Vorfahren einige Jahrhunderte vorher empfangen hatten. Ihre Arbeiten waren in der Tat so fruchtbringend und ihre Beiträge so zahlreich, dass unser heutiger hebräischer Text oft als Massoretischer Text bezeichnet wird. Die oben genannten hebräischen Handschriften sind Exemplare des Massoretischen Textes.

Der gegenwärtige Stand unseres Textes

Wir haben gesehen, dass unsere frühesten hebräischen Handschriften nur bis auf das 9. Jahr­hundert zurückgehen. Wenn wir nicht von der aussergewöhnlichen Sorgfalt wüssten, mit welcher die jüdischen Schreiber beim Kopieren ihrer Schriften arbeiteten, könnte der grosse Zeitabschnitt zwischen der Entstehung der alttestamentlichen Schriften und dem 9. Jahrhundert alarmierend wirken. Schon Jahrhunderte vor den Massoreten trachteten die jüdischen Schreiber gewissenhaft nach Vollkommenheit bei der Übertragung des Textes. Beweise dafür finden wir im Talmud (das jüdische zivile und religiöse Gesetz), wo strenge Anweisungen gegeben werden für die Herstellung von Abschriften des Pentateuch zum Gebrauch in den Synagogen. „Für eine Synagogenrolle muss die Haut von Tieren benutzt werden, die von einem Juden eigens für diesen Zweck zubereitet worden ist. Die Häute müssen mit Sehnen von reinen Tieren zusammengeheftet werden. Jede Haut muss eine bestimmte Anzahl von Spalten aufweisen, die durch den ganzen Kodex gleich sein muss. Die Länge jeder Spalte darf nicht weniger als 48 und nicht mehr als 60 Zeilen betragen, die Breite 30 Buchstaben. Das ganze Schreibmaterial muss erst liniert werden; wenn drei Wörter ohne Linie darin zu finden sind, so ist die ganze Abschrift wertlos. Die Tinte soll schwarz sein und nicht rot, grün oder andersfarbig und muss nach einem bestimmten Rezept angefertigt sein. Die Vorlage muss ein beglaubigtes Exemplar sein, von welchem der Abschreiber nicht im geringsten abweichen darf. Kein Wort oder Buchstabe, nicht einmal ein Strichlein darf aus dem Gedächtnis geschrieben werden. Zwischen allen Konsonanten muss ein Raum von Haares- oder Fadenbreite sein, zwischen den einzelnen Wörtern die Breite eines schmalen Konsonanten. Zwischen den Abschnitten muss die Breite von neun Konsonanten frei bleiben und zwischen den einzelnen Büchern drei Zeilen. Das 5. Buch Moses muss genau mit einer Zeile abschliessen; die anderen Bücher des Pentateuchs brauchen das nicht. Ausserdem muss der Abschreiber in voller jüdischer Tracht sein und seinen ganzen Körper gewaschen haben. Er darf nicht den Namen Gottes anfangen zu schreiben mit einer Feder, die er gerade erst in die Tinte getaucht hat, und sollte ihn ein König anreden, während er dieses Wort schreibt, so soll er ihn nicht beachten ... Die Rollen, bei deren Herstellung diese Anweisungen nicht beachtet werden, sind zum Vergraben oder Verbrennen verdammt oder sind in die Schulen zu verbannen, um als Lesebücher gebraucht zu werden.“ (Nach: Sir Frederic Kenyon, Our Bible and the Ancient Manuscriptes. Revidiert von A. W. Adams.)

Die strikten Anweisungen, die die alten jüdischen Schreiber zu befolgen hatten, sind ein Hauptfaktor für die Garantie einer genauen Überlieferung des alttestamentlichen Textes. Ein anderer Faktor ist die peinliche Genauigkeit, mit der die Massoreten Abschreibfehler aufzu­decken versuchten. Zweifellos existierten Unterschiede in den von den Massoreten benutzten Handschriften, aber viele konnten es nicht gewesen sein. Alle verfügbaren Beweisstücke über diese Frage zeigen, dass der Massoretische Text derselbe ist wie in den Jahrhunderten vor Christus.

Anderes Material wirft zusätzliches Licht auf den hebräischen Text. Da sind Quellen wie die biblischen Zitate im Talmud (200 - 500 n. Chr.) und andere jüdische Dokumente, die aramäischen Targums (100 - 500 n. Chr.; Erläuterungen der hebräischen Schriften in Aramäisch), jüngst entdeckte Fragmente des Alten Testamentes von Origenes (Hexapla), die im 3. Jahrhundert n. Chr. im Gebrauch waren, und die unschätzbaren griechischen und lateinischen Übersetzungen. Die lateinische Vulgata des Alten Testamentes war um etwa 400 n. Chr., also mindestens 500 Jahre ehe die Massoreten ihre Arbeit vollendeten, von Hieronymus direkt aus dem Hebräischen übersetzt worden. Frühere Zeugen sind die griechischen Übersetzungen (Septuaginta, die um 250 v. Chr. begonnen wurde) und der samaritische Pentateuch (nicht später als 400 v. Chr.). Von den zwei letztgenannten Übersetzungen ist die Septuaginta der wichtigere Zeuge, da sie das ganze Alte Testament umfasst. Zwischen der Septuaginta und dem hebräischen Text bestehen viele Abweichungen; eingehende Forschungen haben immer wieder ergeben, dass der hebräische Text viel zuverlässiger ist als die griechische Übersetzung.

Die Schriftrollen vom Toten Meer

Im März 1948 wurde zum ersten Mal von der Entdeckung einiger alter Handschriften in der Nähe des Toten Meeres berichtet. Wie erzählt wird, hatte ein arabischer Junge nach einer verlorenen Ziege gesucht und dabei eine Höhle entdeckt, in der er einige Krüge mit verschiedenen Lederrollen fand. Die Rollen wurden schliesslich verkauft und sind heute der grosse Schatz des Staates Israel.

Seit der ersten Nachricht über diese Schriftrollen wurden noch zahlreiche andere in der gleichen Gegend gefunden. Im ganzen wurden etwa 350 Rollen ausgegraben, von denen die meisten Fragmente sind. Diese Schriftrollen waren von einer tiefreligiösen Gemeinschaft von Juden hergestellt worden, die in der Wüste lebten, „um den Weg des Herrn zu bereiten“. Viele der Rollen befassen sich nur mit dem besonderen Glauben dieser Sekte, viele andere jedoch enthalten auch Bruchstücke des alttestamentlichen Textes. Tatsächlich sind Fragmente von fast jedem Buch des Alten Testamentes aufgetaucht. Da aber noch nicht die Hälfte des vorhandenen Materials entziffert wurde, ist es möglich, dass noch andere Teile zum Vorschein kommen.

Die wichtigsten dieser Handschriften sind zwei Rollen des Propheten Jesaja. Die eine Schriftrolle ist vollständig bis auf wenige Worte und ist bekannt als Jesaja A; die andere Jesaja B, enthält die Kapitel 41 - 59. Das Bewundernswerte an diesen Handschriften ist ihr Alter. Jesaja A wurde 100 Jahre v. Chr. oder gar früher geschrieben, während Jesaja B etwas jünger ist. Hier haben wir also Schriftrollen, die 1000 Jahre älter sind als unsere bisherigen hebräischen Handschriften.

Was offenbaren diese Schriftrollen in Bezug auf unseren Text? Sie sagen uns, dass der hebrä-ische Text kaum eine wesentliche Veränderung erfahren hat. Alle Gelehrten anerkennen, dass der Text dieser alten Rollen unserem heutigen Text auffallend gleich ist. Kapitel 6 des Jesaja­buches mag als Beispiel dienen. Wenn wir Jesaja A mit unserem heutigen hebräischen Text vergleichen, so können wir 37 verschiedene Lesarten in diesem Kapitel finden. Aber fast alle diese Varianten sind nichts als Unterschiede in der Rechtschreibung. Nur drei sind bedeutend genug, um in der Übersetzung wiedergegeben zu werden, aber auch sie stellen keine wesentliche Veränderung dar. Die drei Verschiedenheiten sind: „sie riefen“ anstatt „einer rief dem andern zu“ und „heilig, heilig“ anstatt „heilig, heilig, heilig“ (Vers 3); und in Vers 7 „Sünden“ anstelle von „Sünde“. In diesen Fällen ist unser heutiger Text zweifellos besser als der im Jesaja A. Alles in allem bestätigen die Schriftrollen vom Toten Meer die Richtigkeit unseres heutigen hebräischen Textes.

Zusammenfassung

Die meisten unserer frühesten hebräischen Handschriften sind nicht älter als 1000 Jahre. Das könnte ein schwerwiegendes Argument gegen die Echtheit unseres alttestamentlichen Textes sein, hätten nicht die Massoreten besondere Vorsichtsmassnahmen für das Abschreiben der alttestamentlichen Schriften entwickelt. Auch die strengen Regeln, die von den alten Juden beim Abschreiben beachtet wurden, verbürgen die Genauigkeit unseres heutigen Textes. Alte Übersetzungen des Alten Testamentes und andere Quellen sind von grossem Wert, da sie die Zuverlässigkeit unseres Textes bezeugen. Die biblischen Dokumente der Schriftrollen vom Toten Meer sind eine Sensation. Die bedeutendsten davon sind die zwei Jesajarollen, die trotz ihrer unwesentlichen Unterschiede, vor allem in der Rechtschreibung, unseren heutigen hebräischen Text jeglichen Zweifels entheben.

 

Arbeitsblatt 8: Zum Einprägen

 

Bitte beantworten Sie die folgenden Fragen anhand der Lektion und senden Sie das ausgefüllte Arbeitsblatt an die Kontaktadresse: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

 

1. Stellen Sie das Alter der alt- und neutestamentlichen Handschriften gegenüber und erklären Sie den Grund für die grossen Altersunterschiede.


2. Wer waren die Massoreten? Was taten sie, um die richtige Aussprache des hebräischen Textes zu sichern?


3. Nennen Sie einige Sicherheitsmassnahmen, die sie erdachten, um eine genaue Übertragung des Textes zu gewährleisten.


4. Nennen Sie einige Regeln, die für die Herstellung von Abschriften des Pentateuch für den Synagogengebrauch gegeben wurden.


5. Welches sind die wichtigsten Dokumente der Schriftrollen vom Toten Meer? Wie verhält sich ihr Alter zu dem der bisherigen hebräischen Handschriften?


6. Erklären Sie die Genauigkeit unseres heutigen hebräischen Textes im Vergleich mit den Rollen vom Toten Meer. Bestätigt dieses Material die Zuverlässigkeit unseres anerkannten alttestamentlichen Textes?